"Immer mehr lokale Unternehmen schaffen Wohlstand"

Mit der Osterweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 ist für die Wirtschaft gleich mehrerer Länder eine Art Goldenes Zeitalter angebrochen. Marcin Piątkowski, Professor an der Kozminski-Universität in Warschau, erläutert diese tiefgreifende Transformation.

Blandine Guignier

 

 

Börsenkotierte Unternehmen aus dem ehemaligen Ostblock wie Gedeon Richter, Krka oder InPost kaufen in so unterschiedlichen Segmenten wie der Pharmazie und der Logistik Firmen aus Westeuropa oder den USA auf. Ihr Ziel: Sie wollen weltweit Marktführer in ihrem Sektor werden. Eine solche Situation hätte man sich noch vor 20 Jahren kaum vorstellen können, als fünf mitteleuropäische Staaten, die früher unter kommunistischer Führung gestanden hatten, der Europäischen Union beitraten. Marcin Piątkowski, renommierter polnischer Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Kozminski-Universität und Autor des Werks "Europe’s Growth Champion: Insights from the Economic Rise of Poland", erklärtden unglaublichen Wandel, der sich in diesen Ländern vollzogen hat, und deren künftige Herausforderungen.

 

Wie haben sich Volkswirtschaften wie Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, die Slowakei und Slowenien 20 Jahre nach ihrem EU-Beitritt entwickelt?

Die letzten beiden Jahrzehnte waren für jedes dieser Länder ein Goldenes Zeitalter. Ihre jeweilige Wirtschaft hat sehr rasche Fortschritte gemacht, um sich an Westeuropa anzugleichen. Staaten wie Polen haben ihr Einkommen pro Kopf mehr als verdoppelt, und ihre BIP-Wachstumsraten zählten zu den höchsten in der EU. Die Menschen in Tschechien und Slowenien sind inzwischen im Schnitt reicher als die in Spanien. Alle diese fünf Nationen dürften innerhalb von fünf bis zehn Jahren ein ähnliches BIP pro Kopf wie Italien erreichen. Auch die Arbeitslosenquote ist hier in beispiellosem Umfang zurückgegangen. Sie ist heute sehr niedrig und liegt zwischen 2,7 und 5,3 Prozent gegenüber 10 bis 20 Prozent Anfang der 2000er-Jahre.

Das Beispiel Mittel- und Osteuropa zeigt, dass Staaten Wohlstand schaffen können, wenn sie offen sind, keinen Protektionismus betreiben und ausländische Direktinvestitionen (ADI) anziehen. Für Entwicklungsländer ist das ein interessantes Modell, das sich von den asiatischen Tigerstaaten wie Singapur, Taiwan oder Südkorea unterscheidet. Denn deren Wachstum beruht weitgehend auf inländischen Industrien mit protektionistischen Massnahmen und direkten staatlichen Hilfen.

 

War das Wirtschaftswachstum in Rumänien und Bulgarien, die 2007 der EU beigetreten sind, sowie in Kroatien, das 2013 den Beitritt vollzog, ebenso hoch?

Ja, nach dem Beitritt zur EU haben diese drei Länder gute Ergebnisse verzeichnet. Nicht von ungefähr wird die EU als "Konvergenzmaschine" bezeichnet, die arme Länder aufnimmt und reich macht. In Rumänien ist das BIP pro Kopf nach dem Beitritt 2007 um mehr als 80 Prozent gestiegen. Das BIP in Bulgarien hat sich in ähnlichem Umfang erhöht. Das Wachstum in Kroatien, das in den letzten drei Jahrzehnten überwiegend stagniert hatte, konnte nach dem Beitritt ebenfalls zugelegen.

 

"Erfolgreiche einheimische Unternehmen sind in Zukunftsbranchen wie Onlinehandel, künstliche Intelligenz und Digitalisierung aktiv"
 

 

Was sind die wichtigsten Motoren dieses Wirtschaftswunders?

Eine Reihe von Faktoren spielte hierbei eine Rolle. Doch ein Phänomen, das sich durch den EUBeitritt verstärkt hat, ist nach meiner Auffassung wirklich entscheidend: Diese Länder haben Institutionen geschaffen, die schon in Westeuropa den Erfolg begründet hatten. Ich denke an die Sicherung von Eigentumsrechten, an die Demokratie, die Freiheit des Marktes, den Rechtsstaat, die institutionelle Unabhängigkeit, das Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst, die Pressefreiheit usw. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist das Humankapital.

Denn zum einen ist die Bevölkerung in den Ländern der Region gut ausgebildet. In Polen zum Beispiel verfügen mehr als 40 Prozent der 25- bis 43-Jährigen über einen Universitätsabschluss, in Deutschland gilt das nur für ein Drittel. Und zum anderen sind diese Arbeitskräfte halb so teuer wie in Westeuropa. Und der dritte Grund für den Erfolg: Diese Länder haben keine makroökonomischen Fehler gemacht. Sie haben eine stabile Wirtschaftspolitik ohne grössere Krisen betrieben, ausgenommen die Krise der Euro-Zone und die Corona-Pandemie, die beide nicht ihre Schuld waren.

 

Welche Rolle haben dabei der europäische Kohäsionsfonds und die Subventionen der EU gespielt?

Die Hilfen der EU waren selbstverständlich von Nutzen, denn sie ermöglichten den Ausbau der Infrastruktur: Universitäten, Strassen, Eisenbahnen, U-Bahnen usw. Doch selbst bei hohen Schätzungen haben diese Mittel nur einen geringen Anteil am BIP und können dieses ausgezeichnete Wachstum allein nicht erklären. In Polen beläuft sich der Beitrag dieser EU-Hilfen seit dem Beitritt durchschnittlich auf einen halben Prozentpunkt Wachstum.

Das ist erheblich, genügt aber nicht als Erklärung, warum das Wachstum in Polen um etwa zwei Prozentpunkte höher als in Westeuropa ausfiel. Natürlich waren diese östlichen Staaten froh über die Gelder. Aber auch der Westen hat von der Situation profitiert. Es entstanden Millionen Arbeitsplätze, und der Markt vergrösserte sich für die gesamte Union. So hat Deutschland im ersten Halbjahr 2024 mehr nach Polen als nach Italien exportiert.

 

Inwiefern haben sich die Börsenmärkte in der Region gewandelt? An welchen Märkten herrscht heute die stärkste Dynamik?

Betrachten wir zum Beispiel den polnischen Aktienmarkt, denn er ist der grösste in Mittel- und Osteuropa. Seine gesamte Kapitalisierung (etwa 400 Mrd. Euro im August 2024) ist höher als die an der Wiener Börse (rund 150 Mrd. Euro). Die Warschauer Börse hat zu der starken wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten 20 bis 30 Jahren beigetragen, wenn auch in geringerem Umfang als die ausländischen Direktinvestitionen (ADI). Ehemalige Staatsunternehmen haben hier nach der Privatisierung bzw.

Teilprivatisierung ihren Börsengang (IPO) vollzogen, ebenso wie Unternehmen, die nach der kommunistischen Ära gegründet wurden. In den letzten Jahren hielt sich die Zahl der neuen Börsengänge jedoch trotz der Präsenz erfolgreicher und hochentwickelter Firmen im Land in Grenzen. Einige Unternehmen haben sich gegen einen Börsengang entschieden, bei anderen fiel die Wahl auf eine Kotierung in Amsterdam statt in ihrem Heimatland. Sie waren zweifellos auf der Suche nach günstigeren Bedingungen und Orten, an denen sie sicher waren, dass es tatsächlich verfügbares Kapital gab.

 

Sie sprechen von erfolgreichen und fortschrittlichen Unternehmen aus der Region. Können Sie Beispiele nennen? In welchen Bereichen sind diese vor allem tätig?

Die Wirtschaft der Region beruht auf einer Doppelstruktur. Ein grosser Teil des Wachstums wird durch ADI beflügelt mit Investitionen in vielversprechenden Bereichen wie Elektromobilität und Batterien. Vor allem in Ungarn und Polen fliessen Gelder aus Asien (China und Südkorea) in diese Bereiche. Zudem sind erfolgreiche einheimische Unternehmen in Zukunftsbranchen wie Onlinehandel, KI und Digitalisierung aktiv. Sie wurden in den 1990eroder 2000er-Jahren gegründet und leiden nicht unter einem "Rückstand" gegenüber Firmen im Westen, weil es sich um aufstrebende Wirtschaftszweigehandelte.

Unternehmen wie InPost (europäischer Konzern für die Paketabwicklung), Allegro (europäischer Konkurrent von Amazon) und CD Projekt (Entwickler von Videospielen) sind besonders interessant. Doch es gibt auch Erfolgsbeispiele aus traditionellen Industrien wie der Lebensmittelverarbeitung. Der regionale Konzern Maspex etwa könnte eines Tages an die Börse gehen und sich zum Pendant von Nestlé in der Region entwickeln.

 

"Der Erfolg von Unternehmen aus der Region beruht vor allem eher auf Imitation als auf Innovation"
 

 

Der IWF bezeichnet drei Volkswirtschaften (Slowenien, Slowakei und Tschechien) als "fortgeschritten" und zwei (Polen und Ungarn) als "aufstrebend". Was sind die grössten Herausforderungen für diese Länder?

Meiner Ansicht nach ist die Klassifizierung des IWF in diesem Fall nicht glaubwürdig. Denn zum Beispiel Polen, das inzwischen reicher als Portugal oder Griechenland ist, ist keine "aufstrebende" Wirtschaft mehr. Jedenfalls mache ich mir nicht allzu viel Sorgen um die Zukunft dieser Länder. Ihre Wirtschaft hat aus den zuvor genannten Gründen (Institutionen, Humankapital, stabile Wirtschaftspolitik) jeweils an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen und wird noch mindestens ein Jahrzehnt mit raschem Tempo weiter wachsen. Aktuelle Ereignisse wie der Konflikt in der Ukraine oder Veränderungen in den Lieferketten haben die Region nicht negativ beeinflusst. In Polen haben sich die ADI zwischen 2019 und 2023 verdoppelt und liegen heute bei 28,7 Mrd. Dollar. Dies zeigt, dass Mittel- und Osteuropa gut aufgestellt ist, um in diesem neuen globalen geopolitischen Spiel als Sieger hervorzugehen.

Dennoch bleiben drei grosse Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt: Erstens liegt der Kapitalstock pro Kopf deutlich unter dem der westlichen Länder, trotz aller neuen Infrastruktureinrichtungen. Dies zeigt, dass sowohl öffentliche als auch private Investitionen noch mindestens ein Jahrzehnt auf hohem Niveau fortgesetzt werden müssen, insbesondere im Bereich der Energiewende. Zweitens beruht der Erfolg von Unternehmen aus der Region vor allem eher auf Imitation statt auf Innovation. Denn es sind die Technologien, Konzepte und das Kapital des Westens, die hier zum Einsatz kommen. In Zukunft müssen diese Unternehmen verstärkt ihre eigenen Marken und Ideen entwickeln, um ihre Position halten zu können, wenn die Volkswirtschaften des Ostens an den Westen aufgeschlossen haben. Drittens ist die Geburtenrate in diesen Ländern gesunken, und trotz der ukrainischen Geflüchteten ist die Situation kritisch. Polen könnte bis 2050 beispielsweise sechs Millionen Erwerbstätige verlieren. Mehr Menschen aus dem Ausland müssen zuwandern, im Idealfall junge Arbeitskräfte, die dem Bedarf der Wirtschaft gerecht werden.

 

Kann sich der zunehmende Populismus in der Region, vor allem in der Slowakei und in Polen, negativ auf die Wirtschaftspolitik und das Investitionsumfeld auswirken?

Ich teile die Sorgen um den Rechtsstaat, um die Achtung der Demokratie und bezüglich der antieuropäischen Tendenzen. Dennoch muss man festhalten, dass sich diese Länder, insbesondere Ungarn, wirtschaftlich durchaus gut behaupten. Selbst Viktor Orbán versteht, dass Wachstum ein wichtiger Faktor für seine Legitimität ist.

 

Werden der Aufstieg Chinas und die Diversifizierung der globalen Lieferketten die Attraktivität von Osteuropa für Investoren beeinflussen?/span>

Ich denke, dass die Region nach wie vor ein sicherer Ort für westliches Kapital ist – ohne Risiken durch Enteignung, Misshandlung von Mitarbeitenden usw. Gut ausgebildete Arbeitskräfte, die weniger kosten als in anderen Ländern der Welt, werden auch in Zukunft Investoren anlocken.

 

 

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