Schweizer Forschung in Gefahr
Die Schweizer Wissenschaft belegt weltweit Spitzenplätze. Aber sowohl die akademische Welt als auch Wirtschaftskreise befürchten, dass die Schweiz zurückfallen wird, wenn die Budgets nicht erhöht werden und keine Annäherung an Europa zustande kommen sollte.
Bertrand Beauté
Eine aussergewöhnliche Erfolgsbilanz: Im September 2023 wurde die Schweiz zum 13. Mal in Folge im Global Innovation Index (GII) als innovativstes Land der Welt eingestuft. Wie zahlreiche andere Ländervergleiche bestätigt auch dieses von der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) veröffentlichte Ranking Jahr für Jahr die Exzellenz der Forschung und Entwicklung in der Schweiz. Und diese Exzellenz ist absolut wichtig. "Wir müssen im Bereich F&E führend sein", unterstreicht Jérôme Schupp, der bei der Anlageberatung Prime Partners für den Forschungsbereich verantwortlich ist. "Angesichts der hohen Arbeitskosten und des starken Frankens könnte hier ohne Innovationen nichts produziert werden. Wir wären einfach nicht wettbewerbsfähig. Die Schweiz lebt von der Innovation. Jede Herabstufung wäre eine Katastrophe für die Wirtschaft."
Dieser Ansicht ist auch Luciana Vaccaro, Rektorin der Fachhochschule Westschweiz (HES‑SO) und Präsidentin von swissuniversities, der Konferenz der Hochschulrektorinnen und ‑rektoren: "Der Wohlstand und der Erfolg der Schweiz beruhen auf unserem hervorragenden Bildungssystem und der Stabilität unseres Forschungs‑ und Innovationsstandorts. Den Verlust unserer Spitzenposition würde die Wirtschaft zu spüren bekommen."
Daher investiert das Land viel Geld, um seine führende Stellung im internationalen Wettbewerb zu behaupten. Dem Bundesamt für Statistik (BFS) zufolge beliefen sich die Forschungs‑ und Entwicklungsausgaben 2021 auf 24,6 Mrd. Franken und machten damit 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Damit liegt die Schweiz weltweit an siebter Stelle, hinter den beiden Spitzenreitern Israel (5,6 Prozent) und Südkorea (4,9 Prozent), aber vor dem Durchschnitt der OECD‑Länder, die 2021 2,7 Prozent ihres BIP in die F&E steckten. Den Löwenanteil der Mittel bringen private Unternehmen auf. Auf sie entfielen 2021 etwa 68 Prozent der Schweizer F&E‑Investitionen. Der Rest kommt von den Hochschulen, deren Gelder überwiegend aus öffentlichen Mitteln stammen, vom Bund und privaten gemeinnützigen Einrichtungen.
Aber obwohl alle Indikatoren im grünen Bereich zu liegen scheinen, schlagen Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter Alarm: Sie befürchten, dass der Spitzenplatz der Schweiz heute in Gefahr ist. Und um ihn zu halten, wird das Jahr 2024 entscheidend sein. Ende Februar wird der Bundesrat die Botschaft zur Förderung von Bildung, Forschung und Innovation (BFI‑Botschaft 2025–2028) verabschieden. Nach dem im Juni 2023 vorgelegten Entwurf will der Bund zwischen 2025 und 2028 29,7 Mrd. Franken für Bildung, Forschung und Innovation bereitstellen, was einer nominalen Erhöhung um zwei Prozent entspricht. Für die akademische Welt geht die Rechnung jedoch nicht auf.
In einem gemeinsamen Kommuniqué vom September 2023 bedauern swissuniversities, der ETH‑Rat, der Schweizerische Nationalfonds (SNF), Innosuisse und die Akademien der Wissenschafen Schweiz, dass "der Bundesrat plant, seine Investitionen im Bereich Bildung, Forschung und Innovation zu reduzieren". Ihrer Meinung nach wird das von Bern vorgesehene nominale Wachstum von zwei Prozent nämlich bestenfalls die Inflation ausgleichen können. Es werde aber keinesfalls ausreichen, um neue Projekte zu entwickeln und das für die Jahre 2025 bis 2028 vorgesehene Wachstum der Studierendenzahlen von durchschnittlich 1,3 Prozent pro Jahr an den Universitäten und 1,4 Prozent an den Fachhochschulen zu finanzieren. Um dies zu schaffen, fordern die Wissenschaftskreise "ein reales Mittelwachstum zwischen durchschnittlich 2,5 und 3 Prozent pro Jahr" in diesem Zeitraum.
"Die Schweiz besitzt ausser der Innovation keine anderen Rohstoffe"
Luciana Vaccaro, Rektorin der Fachhochschule Westschweiz (HES‑SO) und Präsidentin von swissuniversities
"Ich verstehe die finanziellen Schwierigkeiten des Bundes. Aber die Anwendung von Sparmassnahmen im Bereich Bildung, Forschung und Innovation würde schwerwiegende Folgen für den Wissenschafts‑ und Wirtschaftsstandort Schweiz haben", erklärt Luciana Vaccaro, Rektorin der Fachhochschule Westschweiz (HES‑SO) und Präsidentin von swissuniversities. "Bildung und Forschung dürfen nicht als Ausgaben betrachtet werden, sondern als Investitionen." Und das ist sogar die wichtigste Investition für die Schweiz, die ausser der Innovation keine anderen Rohstoffe besitzt." Hat die öffentliche Forschung angesichts der Tatsache, dass über zwei Drittel der Forschungs‑ und Entwicklungsinvestitionen aus dem Privatsektor stammen, recht, wenn sie mehr Mittel fordert? "Man kann öffentliche und private Forschung nicht trennen", antwortet Luciana Vaccaro. "Private Akteure konzentrieren sich auf die Forschung, die Innovationen hervorbringt, die kurz vor der Markteinführung stehen." Öffentliche Gelder hingegen ermöglichen Grundlagenforschung, die viel später den Transfer in die Industrie nach sich ziehen wird. Wenn ein Teil der Maschine ins Stocken gerät, wird alles in Mitleidenschaft gezogen."
Um die Bedeutung der Grundlagenforschung und ihren Unterschied zur angewandten Forschung zu erklären, erinnern die Wissenschaftler gerne daran, dass die Glühbirne nicht beim Versuch, die Kerze zu verbessern, erfunden worden sei. Die Grundlagenforschung hat zu technologischen Durchbrüchen geführt, die absolut nicht geplant waren. Als Einstein 1917 das Prinzip des Lasers beschrieb, konnte er sich sicherlich nicht vorstellen, dass der amerikanische Physiker Théodore Maiman die Lasertechnik 1960 entwickeln würde und dass sie – von der Augenbehandlung bis zur Übertragung per Glasfaserkabel – eine derart breitgefächerte Anwendung finden würde.
"Für die Schweiz ist es eine absolute Notwendigkeit, über eine leistungsfähige Grundlagenforschung zu verfügen", bestätigt Professor Rudolf Minsch, Chefökonom und stellvertretender Vorsitzender der Geschäftsleitung des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse. "Innovation ist das Ende einer Reise, die stets mit der Grundlagenforschung beginnt."
Die Sorge um eine mögliche Herabstufung der Schweiz ist umso grösser, als die Eidgenossenschaft bei den europäischen Forschungsprogrammen (Horizon Europe, Euratom, Digital Europe, ITER, Erasmus+) immer noch aussen vor bleibt. "Da die Schweiz nicht mit dem weltweit grössten Forschungs‑ und Innovationsprogramm Horizon Europe und dem Bildungsprogramm Erasmus+ assoziiert ist, hat sie bereits Mühe, ihren Spitzenplatz zu halten. Wenn sie zudem nicht genügend Mittel (...) auf nationaler Ebene investiert, gefährdet sie ihre Wettbewerbsfähigkeit sowie ihren sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und damit ihre überdurchschnittliche Innovationsfähigkeit", schreiben swissuniversities, der ETH‑Rat, der SNF, Innosuisse und die Akademien der Wissenschaften Schweiz in ihrem gemeinsamen Kommuniqué. Auch in dieser Beziehung wird das Jahr 2024 entscheidend sein. Im vergangenen November haben die Europäische Kommission und der Bundesrat angekündigt, Sondierungsgespräche mit der Schweiz über Horizon Europe, das weltweit grösste Programm für wissenschaftliche Zusammenarbeit mit einem Budget von fast 100 Mrd. Euro für den Zeitraum 2021 bis 2027, aufzunehmen. "Wenn die Verhandlungen gut vorankommen, können wir darauf hoffen, dass bereits 2024 ein Assoziierungsabkommen unterzeichnet werden kann", freut sich Luciana Vaccaro.
Es steht viel auf dem Spiel. Im Mai 2021 hatte sich die Schweiz nach siebenjährigen Verhandlungen aus Gesprächen mit der EU über die Erneuerung Dutzender bilateraler Abkommen zu Themen wie Migration und Handel zurückgezogen. Als Reaktion darauf beschloss die Kommission, die Schweiz im Forschungsfinanzierungsprogramm Horizon Europe zu einem nicht‑assoziierten Drittland herabzustufen (s. S. 38). Seitdem können Schweizer Forscher keine Horizon‑Europe‑Projekte mehr koordinieren und haben keinen Zugang mehr zu den renommierten Fördermitteln des Europäischen Forschungsrats. Und die Schweizer Unternehmen sind von den Innovationsprogrammen der EU ausgeschlossen.
"Der Ausstieg aus dem Horizon-Europe-Programm hat kein Chaos geschaffen. Aber es ist ein langsames Gift, dessen Auswirkungen sich erst allmählich bemerkbar machen"
Rudolf Minsch, Economiesuisse
Trotzdem bleibt die Schweiz das innovativste Land der Welt – jedenfalls vorerst. "Der Ausstieg aus dem Horizon‑Europe‑Programm hat kein Chaos geschaffen", räumt Rudolf Minsch von Economiesuisse ein. "Aber es ist ein langsames Gift, dessen Auswirkungen sich erst allmählich bemerkbar machen." Dieser Ansicht ist auch Luciana Vaccaro: "Eine Spitzenposition, wie sie die Schweiz innehat, wird über Jahrzehnte hinweg aufgebaut. Und sie kann nicht von einem Tag auf den anderen zerstört werden. Heute ist die Situation noch gut, aber es gibt bereits einige besorgniserregende Signale." Die Rede ist etwa von Professoren, die die Schweiz verlassen, um eine neue Stelle im europäischen Ausland anzutreten. Oder von Doktoranden, die weggehen und nicht mehr zurückkommen. "Wir haben keine Zahlen, um den Braindrain zu quantifizieren", so Vaccaro. "Aber es ist klar, dass die Schweiz unattraktiver geworden ist, vor allem für junge Forscher."
Ähnliches gilt für Firmen. "Mehrere Schweizer Unternehmen haben Niederlassungen in der Europäischen Union eröffnet, um am Horizon‑Programm teilnehmen zu können", berichtet Rudolf Minsch. So hat beispielsweise ID Quantique ein Kompetenzzentrum in Wien eröffnet, um am europäischen Programm Quantum Flagship teilnehmen zu können, was zur Schaffung von rund 100 hochqualifizierten Arbeitsplätzen in Österreich geführt hat, die eigentlich in Genf hätten sein sollen. "Das ist ein Verlust von Arbeitsplätzen und wichtigen Kompetenzen in einem strategischen Sektor, der Quantenforschung, in dem die Schweiz bisher führend war", bedauert Luciana Vaccaro. "Es ist entscheidend, dass wir uns so schnell wie möglich den europäischen Forschungsprogrammen anschliessen, bevor der durch unsere Isolation entstandene Schaden irreparabel wird."
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