Interview

«Der Weltraum muss allen zugutekommen»

Emmanuelle David, geschäftsführende Direktorin des EPFL Space Center, verfolgt aufmerksam die Entwicklung des New Space. Im Interview betont sie, dass diese aufstrebende Industrie auch die Nachhaltigkeit im Blick behalten muss. Etwa wenn es um Weltraumschrott und Emissionen geht.

Bertrand Beauté

Am 31. Januar 2023 ereignete sich Ungewöhnliches auf der Vandenberg Space Force Base in Kalifornien. Die SpaceX-Rakete schickte den Bordcomputer «Bunny» ins All, ein Gerät, das an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) vom studentischen Spacecraft-Team entwickelt worden war. Der erfolgreiche Start markiert das grosse Comeback der Lausanner Hochschule im Weltraum. 2009 hatte die EPFL mit dem SwissCube den ersten rein schweizerischen Satelliten gestartet. An dessen Entwicklung waren fast 200 Studenten beteiligt. Seitdem hatte die Hochschule kein Objekt mehr in den Orbit gebracht. Auch wenn zwischen den beiden Ereignissen rund 15 Jahre liegen, hat sich das Space Center (eSpace) der EPFL dank der Qualität seiner Forschung, insbesondere im Bereich Nachhaltigkeit, einen Namen gemacht. Was es damit auf sich hat, erläutert Emmanuelle David, geschäftsführende Direktorin des Space Center, im Interview mit «Swissquote Magazine». 

Seit etwa zehn Jahren ist viel von New Space die Rede. Geht es dabei um einen echten Trend oder ist das mehr ein Marketingkonzept?

Die Bezeichnung New Space steht für eine echte unternehmerische Bewegung. In den letzten fünf bis zehn Jahren ist eine unglaubliche Anzahl von Start-ups in den Raumfahrtsektor eingestiegen. Der New Space begann, als die Staaten – insbesondere die USA durch die NASA – zu der Auffassung gelangten, dass der Start von Raketen ins All keine strategische Bedeutung mehr habe. Um die Kosten zu senken und sich auf andere Missionen zu konzentrieren, übertrugen sie das privaten Unternehmen wie SpaceX. Dieser Transfer hatte einen phänomenalen Rückgang der Kosten für den Weltraumzugang zur Folge und setzte den gesamten Raumfahrtsektor in Bewegung. Plötzlich waren Start-ups, aber auch Forschungslaboratorien in der Lage, ihre eigenen Satelliten in die Umlaufbahn zu bringen. Das war eine Revolution. Damals begann New Space in den USA zu boomen, und Europa folgt nun seit fünf Jahren. In diesem Umfeld ergeben sich viele Möglichkeiten. Zum Beispiel bot das italienische Unternehmen D-Orbit im April 2022 den EPFL-Studenten an, ihren Computer «Bunny» ins All zu schicken. Und im Januar 2023 erfolgte dann tatsächlich der Start. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Weltraumprojekt so schnell realisiert wird. Das geht mittlerweile so schnell, dass manche meinen, der New Space sei bereits überholt und wir befänden uns jetzt in der Ära des Fast Space mit extrem schnellen Entwicklungszyklen: Ein Unternehmen hat eine Idee, baut einen Demonstrator, schiesst ihn ins All und testet seine Technologie. Das Ganze dauert nur noch wenige Monate.

Ist der alte Kontinent bei diesem Wettrennen im Rückstand?

Nein. Europa muss sich wirklich nicht schämen. Mit Mitteln, die gewiss nicht denen der USA entsprechen, leisten wir viele gute Dinge. Und immer mehr private Investoren interessieren sich für die Raumfahrtindustrie auf unserer Seite des Atlantiks. So hat beispielsweise das deutsche Start-up Isar Aerospace, das eine Miniträgerrakete namens «Spectrum» entwickelt, im vergangenen März 155 Mio. Euro aufgebracht. Und es gibt andere, sehr vielversprechende Unternehmen auf dem alten Kontinent, darunter die französische Firma Exotrail, die Satellitenmotoren herstellt und im Februar 54 Mio. Euro aufgebracht hat, oder das auf Weltraumlogistik spezialisierte italienische Unternehmen D-Orbit. In der Schweiz haben wir das EPFL-Spin-off ClearSpace, das 2025 den ersten Satelliten zum Einfangen und Entfernen von Weltraumschrott starten soll. Aber die Rendite bleibt trotzdem kompliziert, da die Raumfahrt immer noch hohe Investitionen erfordert. Daher spielen die Weltraumagenturen weiterhin eine wichtige Rolle, denn sie bieten den Unternehmen langfristige Verträge an, die es ihnen ermöglichen, sich weiterzuentwickeln.

Welche Bereiche werden vom Höhenflug der Raumfahrtbranche profitieren?

Da sind zunächst einmal die Satellitenbilder, deren bekannteste Anwendungen Dienste wie Google Earth betreffen. Aber die Bildgebung wird auch in vielen anderen Bereichen eingesetzt. Dazu gehören beispielsweise die Meteorologie, die Überwachung der Umwelt, die Beobachtung des Klimawandels und seiner Auswirkungen, die Landwirtschaft, die Brandbekämpfung und auch, wie in der Ukraine zu sehen, bewaffnete Konflikte. Ein weiterer wichtiger Markt ist der satellitengestützte Internetzugang, wie er von Starlink in Regionen ohne Mobilfunknetz angeboten wird. Auch das Internet der Dinge ist Teil dieses Trends. In diesem Bereich werden Satelliten zahlreiche Anwendungen im Transportwesen ermöglichen. 

Schliesslich ist auch der Weltraumtourismus zu erwähnen. Er steckt zwar noch in den Kinderschuhen, aber man kann davon ausgehen, dass es in einigen Jahren private Raumstationen geben wird. Und dann werden sich durch die Nutzung des Weltalls wahrscheinlich noch viele andere Anwendungen entwickeln, die man sich heute noch nicht unbedingt vorstellen kann.

Das alles wird dazu führen, dass die Zahl der Satelliten, die in die Umlaufbahn gebracht werden, explosionsartig ansteigt. Müssen wir uns Sorgen über eine mögliche Übersättigung des nahen Weltraums machen?

Der Weltraummarkt beschleunigt sich rasant. Es ist fantastisch und beängstigend zugleich zu sehen, was alles möglich wird. Ähnlich wie bei der künstlichen Intelligenz und den damit verbundenen Bedenken meine ich, dass sich die Raumfahrtindustrie an einem entscheidenden Punkt befindet. Wir müssen unbedingt das Worst-Case-Szenario verhindern, bei dem wir den Zugang zum Weltraum verlieren. An der EPFL beschäftigen wir uns intensiv mit dieser Frage der Nachhaltigkeit. 

 

«Die Auswirkungen auf die globale Erwärmung mögen heute noch vernachlässigbar sein, aber morgen, wenn die Vision von SpaceX Wirklichkeit wird, werden sie es nicht mehr sein»

 

Worum geht es bei diesen Forschungsarbeiten?

Rund 40 Laboratorien der EPFL sind im Raumfahrtbereich tätig. Es laufen enorm viele Projekte in so unterschiedlichen Bereichen wie Kommunikation, Bildgebung oder Materialforschung. Im Hinblick auf die Nachhaltigkeit konzentrieren wir uns auf drei Schwerpunkte: Messen, Analysieren und Handeln. Beim Thema Weltraumschrott zum Beispiel gelingt es uns derzeit, Objekte mit einer Grösse von über zehn Zentimetern aufzuspüren. Aber wir können sie nicht ständig verfolgen und wissen nicht immer, wie sie sich verhalten. Für kleinere Objekte hingegen haben wir nur statistische Modelle. Es ist wichtig, diese Modelle sowie die Erkennungssysteme zu verbessern, denn wenn ein zentimetergrosses Objekt mit einem Satelliten zusammenprallt, kann dies zu einem katastrophalen Ereignis mit einer Kettenreaktion führen: Der zerstörte Satellit produziert selbst Trümmer, die dann weitere Satelliten zerstören. 

In einem anderen Bereich untersuchen wir auch die Auswirkungen des Raumfahrtsektors auf die globale Erwärmung. Derzeit ist die CO2-Bilanz einer Weltraummission noch völlig unbekannt. Die Auswirkungen auf die globale Erwärmung mögen heute noch vernachlässigbar sein, aber morgen, wenn die Vision von SpaceX Wirklichkeit wird, werden sie es nicht mehr sein. Und die Vision wird Wirklichkeit werden, weil wir diese Dynamik nicht bremsen können und Innovationen nicht stoppen dürfen.

Was kann man zum Schutz des nahen Weltraums tun? Sollten die Staaten Gesetze zu dessen Schutz erlassen, ähnlich wie es zur Eindämmung der globalen Erwärmung geschieht?

Bisher gibt es keine entsprechenden Vorschriften. Wenn beispielsweise die Gefahr besteht, dass zwei Satelliten zusammenstossen, ist nicht definiert, welcher Satellit sich bewegen muss, um den Unfall zu vermeiden. Für den Weltraum gibt es kein Äquivalent zur Strassenverkehrsordnung. Es ist jedoch utopisch zu glauben, dass sich alle Staaten darauf einigen werden, Gesetze zum Schutz des Weltraums zu erlassen. Daher denke ich, dass es an Europa liegt, hier die Führung zu übernehmen und mit gutem Beispiel voranzugehen. 

Darüber hinaus arbeiten wir an der EPFL daran, das Bewusstsein der Unternehmen zu schärfen, besonders wenn es um das Space Sustainability Rating (SSR) geht. Dieses freiwillige, 2021 eingeführte Bewertungssystem bietet den Akteuren der Raumfahrt ein einfaches Instrument, um die Nachhaltigkeit in jeder Phase ihrer Missionen zu messen.

Die meisten Satelliten werden von einer Handvoll Unternehmen wie beispielsweise Starlink oder OneWeb gestartet. Sind diese Unternehmen für eine solche Botschaft empfänglich?

Die Unternehmen, die grosse Satellitenkonstellationen betreiben, bringen die Dinge voran, weil sie auf ihr Medienimage achten und Kollisionen vermeiden wollen. Davon abgesehen muss der Zugang zum Weltraum allen zugutekommen. Deshalb muss sichergestellt sein, dass die erdnahen Umlaufbahnen nicht vollständig von einigen wenigen Akteuren kontrolliert werden.