«Alle Aktivitäten lassen sich
im Minutentakt beobachten»

Der Amerikaner Richard L. Peterson ist Gründer und CEO von Marketpsych, einem Unternehmen, das die Stimmung am Markt mittels künstlicher Intelligenz analysiert. Wir haben mit dem Firmenchef in Kalifornien via Zoom gesprochen.

Ludovic Chappex

Richard L. Peterson: Verschmelzung von Psychologie und Finanzen

Der Gründer und CEO von Marketpsych bringt für seine Tätigkeit die entsprechenden Voraussetzungen mit. Der amerikanische Psychiater und Spezialist für Neuroökonomie und Behavioral Finance ist der Autor von verschiedenen wissenschaftlichen Werken und Artikeln über diese Themen. Das 2007 erschienene Buch «Inside the Investor's Brain» machte die Konzepte von Behavioral Finance populär. 2016 veröffentlichte er das Werk «Trading on Sentiment», in dem er einen Zusammenhang zwischen Gefühlen von Anlegern, die sich in den Nachrichten und sozialen Netzwerken widerspiegeln, und Kursschwankungen an den Börsen herstellte.

Richard Peterson hat in Medizin promoviert und an der Stanford University Postdoc-Forschung im Bereich der Neuroökonomie betrieben. Im Bildungswesen entwickelte er vor allem Tests für die Finanzpersönlichkeit. Er lebt mit seiner Familie in Kalifornien.

Die Marktstimmung in Echtzeit anhand von Presseartikeln und in sozialen Netzwerken veröffentlichten Nachrichten erfassen. Das ist das Markenzeichen des amerikanischen Unternehmens Marketpsych. Ermöglicht wird dieses Kunststück durch maschinelles Lernen, einen Teilbereich der künstlichen Intelligenz (KI), der Maschinen in die Lage versetzt, zu lernen und selbst Entscheidungen zu treffen.

Die von Marketpsych eingesetzten Instrumente basieren auf der Verarbeitung von natürlicher Sprache (Natural Language Processing oder NLP) und können in Echtzeit enorme Datenmengen extrahieren und analysieren. Das Unternehmen besteht aus rund 15 Mitarbeitenden, überwiegend KI-Spezialisten, und gibt an, Nachrichten über mehr als 30’000 Unternehmen, 300 Kryptowährungen, 44 Währungen oder auch 53 Rohstoffe in zwölf verschiedenen Sprachen auf Basis von mehr als 4’000 Quellen (Wirtschaftspresse, Blogs, soziale Netzwerke) zu verfolgen. Diese Daten werden von Banken, Hedgefonds, Finanzanalysen und Pensionsfonds genutzt.

Können Anleger die Marktstimmung wirklich für ihre Entscheidungen nutzen statt sich auf Wirtschaftsdaten zu stützen?

Ja, absolut. Wenn zum Beispiel Ärger über ein Unternehmen laut wird, ist damit zu rechnen, dass dessen Aktie kurzfristig fällt, später aber wieder steigen dürfte. Dies ist oft der Fall, wenn das Management des Unternehmens ein moralisches Fehlverhalten begangen hat. Aktionäre neigen dann aufgrund ihrer Emotionen zu überzogenen Reaktionen und verkaufen die Aktie zu einem Preis, der wirtschaftlich unvernünftig ist. Krisenzeiten stellen daher oft eine gute Gelegenheit dar. Vor einigen Jahren setzten wir eine Strategie um, bei der Aktien von den 10 Prozent der Unternehmen gekauft wurden, die in den sozialen Netzwerken den meisten Ärger hervorriefen. Diese Unternehmen entwickelten sich im darauffolgenden Jahr tendenziell besser als der Markt. Es handelte sich gewissermassen um eine Anti-ESG-Strategie. Wir kauften Aktien von Unternehmen, die bei aller Welt verhasst waren. Tatsache ist jedoch, dass sich diese Unternehmen anschliessend oft bessern und manchmal sogar führend im Bereich der nachhaltigen Entwicklung und Unternehmensführung werden. 

Bei ESG werden wir in Kürze einen voraussagenden Index anbieten, der ausschliesslich auf diesen Kriterien beruht. Schauen Sie sich hier die Aktie von Apple an (Anm.d.R.: Er teilt seinen Bildschirm): Man kann sehen, wie viele Personen von Apple in den sozialen Netzwerken im Zusammenhang mit dem Thema ESG reden. Es ist möglich, die Aktivität von Minute zu Minute zu beobachten. Diese Aktivität und die Meinungen der Menschen können den zukünftigen Kurs der Aktien bestimmen.

Ihrer Ansicht nach beeinflusst die Stimmung, die in den Nachrichten und sozialen Netzwerken zum Ausdruck kommt, die Kurse von Aktien. Aber verhält es sich nicht eher umgekehrt?

Das funktioniert in beide Richtungen. Wenn der Kurs einer Aktie plötzlich um 10 Prozent fällt, produzieren die Medien ein Narrativ, um die Ursache für diesen Rückgang zu erklären. Wenn genügend Leute daran glauben und eine negative Stimmung entsteht, bewirkt dies einen künftigen Kursrutsch. Das ist ein Szenario, das sich hochschaukelt.

Mitunter kommt die ausgedrückte Stimmung aber der Marktbewegung zuvor. Anleger erzählen sich immer eine Geschichte. Sie sagen beispielsweise: Wenn die Zinsen steigen, werden die Kurse von Aktien fallen. Dieses pessimistische Szenario wird in den Nachrichten und sozialen Netzwerken verbreitet und beeinflusst am Ende die Kurse.

Vor allem soziale Netzwerke wirken als Beschleuniger. Hierfür gab es in letzter Zeit gute Beispiele. Wir erinnern uns an die Aktie des Videospielhändlers Gamestop, die nach einem unglaublichen Hype in den sozialen Netzwerken in die Höhe schoss.

Der Markt für Kryptowährungen ist für seine sehr starke Volatilität bekannt. Reagiert er empfindlicher auf die Marktstimmung als der Aktienmarkt?

Ja, genau das beobachten wir. Bei Kryptos können Sie sehr oft sehen, dass eine Stimmung entsteht, bevor es zu einer Kursbewegung kommt. Vor dem Einbruch von LUNA im letzten Herbst konnten wir zum Beispiel eindeutig erkennen, dass die Stimmung ins Negative umschlug, noch vor dem letzten Spitzenstand. Bei jeder Kryptowährung verfolgen wir eine Vielzahl von Parametern anhand von Schlüsselworten wie Akzeptanz, Stimmung der Entwickler, Aktualisierung des Codes, Geschwindigkeit der Transaktionen, FOMO (Hinweis: Fear of Missing out, die Angst, etwas zu verpassen) oder eventuelle Attacken. In der Regel entwickeln sich die Kryptowährungen, die zu den Top Drei gehören, besser als der Markt.

Wie gehen Sie konkret vor, um die Marktstimmung zu analysieren?

Wir nutzen viele Open-Source-Tools für die Verarbeitung von natürlicher Sprache wie etwa spaCy oder seit Kurzem auch Llama2 von Meta. Wir passen sie jedoch für die Finanzwelt an. Vor allem in den sozialen Netzwerken sind die Meldungen sehr kurz. Daher muss der wirtschaftliche Kontext von diesen Tools angemessen berücksichtigt werden.

Ich zeige Ihnen ein paar Indizes, die wir anbieten (Hinweis: Er teilt seinen Bildschirm). Unsere Kunden haben Zugriff auf diese Plattform. In diesem Fenster zum Beispiel extrahieren wir jedes Mal, wenn sich soziale Netzwerke oder Medien für ein Unternehmen interessieren, diese Informationen. Die Large Language Models (LLM), also die grossen generativen Sprachmodelle, sammeln alle Kommentare und alle Nachrichten der letzten Stunde und fassen sie in Form eines sehr kurzen Textes von einigen Zeilen für jedes Unternehmen zusammen. Darin spiegelt sich sozusagen der Puls wider, das heisst, an welchem Punkt die Aufmerksamkeit des Marktes für dieses oder jenes Unternehmen geweckt wurde, und die allgemeine Stimmung ihm gegenüber.

Der Nutzer kann seine Präferenzen nach mehreren Kriterien definieren, indem er zum Beispiel ein bestimmtes Land auswählt. Betrachten wir börsenkotierte Schweizer Unternehmen: Hier können wir quasi in Echtzeit die Stimmung sehen, die zu jedem Unternehmen deutlich wird.

 

«Wenn ich 10 Prozent bei geringer Volatilität verdiene, ist das sehr gut»

 

Und das funktioniert? 

Wie verschiedene Studien zeigen, haben unsere Daten eine besondere Voraussagekraft bei Devisen, Obligationen, Rohstoffen und Kryptowährungen. Wir stellen detaillierte Indikatoren für die globale Stimmung bei diesen Themen zur Verfügung. Im Jahr 2020 haben wir zudem ein Produkt lanciert, das den Kurs von Aktien vorhersagen soll. Die meisten Unternehmen scheitern in diesem Bereich nach der Einführung ihres Produkts, weil es schwierig ist, Signale zu entwickeln, die über einen längeren Zeitraum konstante Vorhersagen liefern.

Seit seiner Einführung kann unser Modell bei der Vorhersage der Entwicklung von amerikanischen und japanischen Aktien in den nächsten 30 bis 90 Tagen überzeugen. Allerdings behaupten wir nicht, dass wir die Kursentwicklung systematisch vorhersagen können. Zurzeit gibt es keinen wissenschaftlichen Konsens in diesem Bereich. Nach Einschätzung mehrerer Universitätsstudien existiert keine nachweisliche Prognosefähigkeit für Kurse anhand von Daten über die Marktstimmung.

Worauf es ankommt, wenn man versucht, Börsenkurse vorherzusagen, ist, dass man es richtig macht. Den Traum von einer jährlichen Rendite von 30 Prozent oder 40 Prozent kann man sich abschminken. Man braucht sich bloss zu sagen: Wenn ich 20 Prozent schaffe, dann ist das super. Wenn ich durchgängig 10 Prozent bei einer geringen Volatilität verdiene, ist das auch sehr gut. 

Sind Ihre Lösungen eher geeignet, um den Markt kurz-, mittel- oder langfristig einzuschätzen?

Hierbei sind verschiedene Ansätze möglich. Daten können jede Minute, jeden Tag oder jeden Monat aggregiert und aktualisiert werden. Alles hängt von den Anforderungen der Kunden ab, je nachdem, ob es sich um Händler, Pensionsfonds oder auch Versicherungsgesellschaften handelt. Unser nächstes Produkt, das im Januar herauskommt, bietet eine Frequenz von 140 Millisekunden.

Zu beachten ist: Je kürzer die Durchschnittszeiten, desto ausgeprägter sind Höhen und Tiefen. Wenn man allein die tägliche Entwicklung der Stimmung verfolgt, kann es schwer sein, sich zurechtzufinden. Wenn man aber einen Mittelwert über längere Zeit betrachtet, zum Beispiel über einen Monat oder über drei Monate, wird das Bild sehr viel aussagefähiger.

Im April dieses Jahres ist eine Studie erschienen, die die Wirksamkeit von ChatGPT-4 beim Stock Picking auf Basis der Marktstimmung belegt hat. Inwieweit stellt dieses Programm einen Gamechanger und einen Konkurrenten für Sie dar? 

Diese Programme verändern tatsächlich die Situation, weil sie über eine Chat-Schnittstelle verfügen. Der Anleger kann somit in Interaktion treten und sehr spezifische Fragen stellen, mit denen sich Daten besser auswerten lassen. Die Programme sind im Übrigen immer mehr in der Lage, den Zusammenhang zu verstehen, in dem ein Text verfasst wurde, und können daher die Bedeutung eines Worts viel effizienter interpretieren. Bei der Konzeption von ChatGPT spielte die Vorhersagefähigkeit jedoch keine besondere Rolle. ChatGPT beruht auf historischen Daten und neigt deswegen dazu, eine Einschätzung in Abhängigkeit von diesen Daten zu liefern – was oft zu einem Overfitting, einer Überanpassung im Verhältnis zur Vergangenheit führt. Wir meinen, dass es zurzeit andere Algorithmen gibt, die für die langfristige Modellierung besser funktionieren.

Wie sehen Sie angesichts der raschen Entwicklung der Technologie die Zukunft für die Analyse von Marktstimmungen?

Programme, mit denen sich nützliche Informationen aus Texten extrahieren lassen, machen rasche Fortschritte. Wir können inzwischen die grossen Sprachmodelle (LLM) nutzen, um Signale zu extrahieren, die tief verankert sind in 100 Seiten langen vorschriftsmässigen Berichten und grossen Mengen an Kommentaren in sozialen Netzwerken, die augenscheinlich nicht von Interesse sind. Aber diese Technologien auf Basis von GPU (Grafikprozessoren) sind wegen ihrer Rechenintensität noch teuer. Wir gehen davon aus, dass die Kosten im Laufe der Zeit sinken und die Kapazitäten steigen. Dann wird die «Nadel im Heuhaufen» leichter zu finden sein.