"Ich versuche, das Schweizer System zu schützen"
Die 1855 gegründete Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETHZ) ist zu einer weltweiten Referenz geworden. Diese begehrte Position möchte ihr Präsident, der Physiker Joël Mesot, mit allen Mitteln verteidigen. Wir sprachen mit ihm.
Bertrand Beauté
Obwohl Joël Mesots Terminkalender zu Beginn des Jahres sicher übervoll ist, hat er sich die Zeit genommen, um in einer Videokonferenz die Fragen von "Swissquote Magazine" zu beantworten. Der Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) sprach mit uns ausführlich über Wissenschaft, Forschung, Bildung und Innovation, aber in diesen schwierigen Zeiten ebenso über Politik und Budgetkürzungen.
Welchen Platz nimmt die Schweiz bei Bildung und Forschung weltweit ein?
Im Vergleich zu ihrer Grösse steht die Schweiz weitaus besser da als andere Länder. Das allgemeine Bildungsniveau ist ausserordentlich hoch, und das Hochschulsystem ist wirklich sehr stark. Wenn man sich die QS World University Rankings ansieht, findet man die ETH Zürich jedes Jahr unter den zehn besten Universitäten der Welt (7. Platz 2024, 9. Platz 2023 und 8. Platz 2022, Anm. d. Red.). Zudem ist die Schweizer Industrie äusserst innovativ. Und wir haben ein Finanzierungssystem, das es ermöglicht, Start‑ups in ihrer Anfangsphase zu begleiten. Und schliesslich sind wir ein Land, das sehr offen ist, wenn es darum geht, Talente aus dem Ausland anzuwerben.
Dieses Ökosystem macht die Schweiz zum innovativsten Land der Welt. Aber das ist die derzeitige Situation. Es gibt keine Garantie, dass das so bleiben wird. Heute spannt sich die Lage an allen Fronten an. Das gefährdet unsere Exzellenz.
"Unser Budget 2025 könnte um fast 10 Prozent gegenüber 2022 sinken. Dieses Loch können wir nicht stopfen"
Woran liegt das?
An den Budgetkürzungen. Bildung und Forschung sind auf die Unterstützung des Bundes angewiesen. Dieser hat sich jedoch in den letzten Jahren aus vielfältigen Gründen verschuldet, beispielsweise wegen der Covid‑19‑Pandemie, des Flüchtlingsstroms aus der Ukraine, der steigenden Energiepreise oder der Aufstockung des Armeebudgets. 2001 hat das Volk jedoch für die Schuldenbremse gestimmt, die es dem Bund nicht erlaubt, sich in ein chronisches Defizit zu begeben. Dieser Mechanismus ist eine gute Sache, denn dadurch ist die Schweiz wenig verschuldet und nimmt in diesem Punkt im internationalen Vergleich einen beneidenswerten Platz ein.
Aber da die Ausgaben gestiegen und die Einnahmen gesunken sind, ist der Bund heute gezwungen, Budgetkürzungen vorzunehmen. Und diese treffen vorrangig die Bereiche Bildung, Forschung und Innovation, weil diese Ausgaben nicht miteinander verbunden sind. An der ETHZ werden die Mittel bis 2025 um 4 Prozent gekürzt – das sind 50 Mio. Franken weniger. Wenn man die Inflation und den Anstieg der Studierendenzahlen um 4 bis 5 Prozent pro Jahr hinzurechnet, könnte unser Budget 2025 um fast 10 Prozent gegenüber 2022 sinken. Und dieses Loch können wir nicht stopfen. Ich verstehe die Situation des Bundes, aber diese Situation beunruhigt mich für die Schweizer Gesellschaft. Wir dürfen nicht vergessen, dass Innovation unser wichtigster Trumpf ist. Ohne sie wäre unsere Wirtschaft nicht so leistungsfähig.
Welche Sparmassnahmen werden Sie an der ETHZ ergreifen?
Wir starten gerade unser drittes Sparprogramm – zwei haben wir bereits hinter uns. Konkret bedeutet das, dass wir uns wieder auf unsere Kernaufgaben konzentrieren: Bildung, Forschung und Technologietransfer. Einige Nebenprogramme könnten jedoch eingestellt werden. So haben wir beispielsweise im Juni 2023 zusammen mit der EPFL die "Coalition for Green Energy and Storage" ins Leben gerufen (diese Kooperation mit Partnern aus Industrie und Politik zielt darauf ab, innovative Lösungen im Bereich der erneuerbaren Energien zu entwickeln, Anm. d. Red.). Heute stellt sich die Frage, ob wir diese Zusammenarbeit fortsetzen können. Ausserdem verringert sich seit mehreren Jahren das Verhältnis zwischen Professoren und Studierenden. Vor zehn Jahren betreute ein Professor 29 Studierende. Heute sind es 37. Die wiederholten Budgetkürzungen können nicht ohne Auswirkungen auf die Qualität von Forschung und Bildung bleiben.
Die EPFL denkt darüber nach, die Zahl ihrer Studienanfänger zu limitieren, um so die Kosten zu begrenzen. Ziehen Sie diese Möglichkeit ebenfalls in Betracht?
Im Moment wollen wir das mit allen Mitteln verhindern. Wir suchen nach alternativen Lösungen. So arbeiten wir beispielsweise an der Rolle der künstlichen Intelligenz in der Bildung – wir haben ein Zentrum zu diesem Thema eröffnet. Wir schauen uns an, wie uns KI dabei helfen könnte, die Kosten zu senken, bleiben aber weiterhin eine Präsenzuniversität.
Aber was mich mehr beunruhigt als eine Begrenzung der Studierendenzahlen, ist, dass man uns eines Tages eine Erhöhung der Studiengebühren auferlegen könnte. Derzeit kostet ein Jahr an der ETHZ 1’500 Franken. Das ist sehr wenig, aber es ist die Voraussetzung dafür, dass alle Menschen Zugang zur Universität haben. Ich möchte nicht, dass man eines Tages 100’000 Franken pro Jahr bezahlen muss, so wie an den amerikanischen Universitäten. Wissen Sie, ich war der Erste in meiner Familie, der studiert hat. Ich hätte nie an der ETHZ studieren können, wenn die Studiengebühren hoch gewesen wären. Wir haben ein schönes Bildungsmodell in der Schweiz, ein soziales Modell. Mir liegt viel daran, es zu schützen.
"Sehr oft kommen die technologischen Durchbrüche aus der Grundlagenforschung"
Zwei Drittel der Forschung und Entwicklung in der Schweiz werden von den Unternehmen finanziert. Ist es wirklich notwendig, so viel öffentliches Geld für die Forschung auszugeben?
Die ETHZ wurde 1855 gegründet, um die Industrialisierung der modernen Schweiz voranzutreiben. Unsere DNA besteht darin, Grundlagenforschung zu betreiben und die daraus resultierenden Technologien dann in die Industrie zu transferieren. Das ist unser Modell, ein Modell, das einen ungeheuren Erfolg hat. 2023 wurden beispielsweise 43 Spin‑offs von Forschern unserer Universität gegründet – ein Rekord, der den vorherigen (34 Start‑ups 2019) bei Weitem übertrifft. Warum braucht man also öffentliche Gelder, damit dieses System funktioniert? Die Industrie konzentriert sich im Grossen und Ganzen auf die angewandte Forschung, deren wirtschaftliche Auswirkungen kurz‑ oder mittelfristig absehbar sind. Aber die Grundlagenforschung ist für die Industrie zu riskant. Sie erfordert einen langen Zeitraum, der mit dem Wirtschaftszyklus eines Unternehmens unvereinbar ist. Die Rolle und Stärke der beiden ETHs (Lausanne und Zürich) besteht daher darin, Grundlagenforschung zu betreiben. Das ist eine entscheidende Rolle, denn sehr oft kommen die technologischen Durchbrüche aus der Grundlagenforschung.
Könnten Sie ein Beispiel nennen?
Mir gefällt besonders die Geschichte der Magnetresonanztomografie (MRT). Alles begann in den 1940er-Jahren mit den grundlegenden Arbeiten des amerikanischen Physikers Isaac Rabi, der die magnetischen Eigenschaften von Atomkernen untersuchte. Dann kam die Arbeit des Schweizer Physikers Felix Bloch hinzu, der an der ETH Zürich studiert hat. Seine Forschungen, die stets rein grundlagenorientiert waren, veranlassten ihn 1946 dazu, die Bloch-Gleichungen vorzuschlagen. Sie bilden die Grundlage für die NMR-Spektrometrie (eine Technik, die die magnetischen Eigenschaften bestimmter Atomkerne ausnutzt, Anm. d. Red.) und brachten ihm 1952 den Nobelpreis ein.
Jahre später setzten zwei weitere Nobelpreisträger der ETH Zürich, Kurt Wüthrich und Richard Ernst, die Arbeiten von Felix Bloch fort und entwickelten schliesslich die MRT, die heute in der Medizin verbreitet eingesetzt wird. Man brauchte also 80 Jahre, um von den ersten Schritten der Grundlagenforschung zu einer Anwendung zu gelangen, die die medizinische Diagnose revolutioniert hat!
Ein anderes Beispiel: Albert Einstein ist heute in der breiten Öffentlichkeit für seine Arbeiten zur Relativitätstheorie bekannt, aber man vergisst oft, dass er seinen Nobelpreis 1921 für seine Erklärung des photoelektrischen Effekts erhielt. Und dieser Effekt ermöglicht heute den Betrieb von Photovoltaikmodulen, die für die Energiewende so wichtig sind. Die Grundlagenforschung ist also absolut wichtig, insbesondere für eine fortschrittliche Gesellschaft wie die Schweiz, die nur über sehr wenige andere natürliche Ressourcen verfügt.
Die Schweiz ist seit drei Jahren vom europäischen Forschungsprogramm Horizon ausgeschlossen. Welche finanziellen Auswirkungen hat das für die ETHZ?
Die finanziellen Auswirkungen waren nicht allzu gross. Nach dem Ausschluss hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) Übergangsmassnahmen ergriffen. Vorher bekamen wir rund 100 Mio. Franken pro Jahr über die europäischen ERC-Stipendien. Heute erhalten wir einen etwa gleich hohen Betrag dank der Stipendien "SNSF Grants". Es gibt allerdings einen kleinen Unterschied: Wenn Sie ein Stipendium erhalten, entstehen der Schule zusätzliche Kosten. Auf dieser Ebene gibt der Bund nur halb so viel wie Europa, was für die ETHZ einen Einnahmeverlust von zwölf Mio. Franken pro Jahr bedeutet. Das grösste Problem ist jedoch, dass die Ausgleichsmassnahmen des SNF vorübergehend sind. Was passiert, wenn die Schweiz nicht wieder ins Horizon‑Programm aufgenommen wird? Wie lange wird der Bund angesichts seiner finanziellen Schwierigkeiten noch zahlen?
Welche anderen Auswirkungen hatte der Ausschluss aus dem Horizon-Programm, abgesehen von der finanziellen Komponente, auf die Schweizer Forschung?
Es gab zahlreiche Auswirkungen. Ein ERC‑Stipendium bedeutet viel mehr als eine Finanzierung, vor allem für Forscherinnen und Forscher, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Es ist eine renommierte Auszeichnung, die Türen und Netzwerke öffnet und ein berufliches Sprungbrett darstellt. Zudem können unsere Forscher zwar noch an einigen Programmen teilnehmen, aber keine grossen europäischen Projekte mehr koordinieren. Durch den Ausschluss hat die Schweiz also an Attraktivität verloren, insbesondere für junge Talente. Ich weiss nicht, aus welchen Gründen der eine oder andere Forscher eine Stelle an der ETHZ ablehnt, aber die Frage nach Europa wird bei jedem Einstellungsgespräch, das wir führen, von den Bewerbern stets gestellt. Ausserdem haben wir einige Forscher verloren, die uns verlassen haben, um an renommierte Institutionen wie die Max-Planck-Gesellschaft in Deutschland zu wechseln.
Horizon Europe betrifft jedoch nicht nur die Grundlagenforschung. Das Programm unterstützt auch die Industrie und Start-ups. Es gibt einige innovative Schweizer Unternehmen, die einen Teil ihrer Aktivitäten nach Europa verlagert haben, um ihren Zugang zu EU‑Fördermitteln zu behalten. Auch wenn die unmittelbaren Folgen nicht allzu dramatisch erscheinen, ist es die fortschreitende Erosion unserer Wettbewerbsfähigkeit, die mir Sorgen bereitet.
In einigen von der EU als sensibel eingestuften Bereichen wie der Quantentechnologie ist die Schweiz völlig ausgeschlossen. Sie kann nicht mehr an Forschungsprojekten teilnehmen.
Im Bereich der Quantentechnologie gilt in diesem Zusammenhang: «Loose, loose». Da verlieren alle. Unsere Forscher erhalten nicht einmal mehr Einladungen zu Konferenzen über dieses Thema. Auf der anderen Seiteschiesst sich Europa ins eigene Bein, weil die Schweiz in diesem Bereich zu den Besten gehört. Aber das Schlimmste ist, dass wir selbst bei einer Wiederaufnahme der Schweiz ins Horizon-Programm noch nicht wissen, ob wir auch wieder in die sensiblen Bereiche aufgenommen werden, zu denen die Quantentechnologie gehört. Ich denke, dass dies Teil der Gespräche zwischen der Europäischen Kommission und dem Bund sein wird.
Der Bund hat bereits 2021 angekündigt, dass er wissenschaftliche Kooperationen mit anderen Partnern wie China oder den USA eingehen wolle, um die Abkoppelung von Europa auszugleichen. Wie sieht es damit aus?
Wir haben gute Partnerschaften mit den USA, Grossbritannien und Asien. Aber machen wir uns nichts vor: Eine Zusammenarbeit wie die, die wir mit Europa hatten, lässt sich nicht innerhalb von drei Jahren ersetzen. Das dauert viel länger. Ausserdem werden im Rahmen des Horizon-Programms alle Parameter - insbesondere die Rechte an geistigem Eigentum - im Voraus geregelt. Mit den USA ist dieser Aspekt sehr komplex.
Wir müssen für jedes einzelne Projekt verhandeln, was für die Hochschule mit erheblichen Kosten verbunden ist. Schliesslich darf man die geografische Lage der Schweiz nicht vergessen. Wir befinden uns im Herzen Europas. Bei bestimmten Themen macht es keinen Sinn, mit Ländern am anderen Ende der Welt zu arbeiten. So werden wir beispielsweise im Energiebereich das Problem der Stabilität des Stromnetzes nicht mit China regeln. Da müssen wir mit Europa Lösungen entwickeln.
Im vergangenen November haben die Schweiz und die Europäische Kommission bekannt gegeben, dass sie die Verhandlungen über eine Wiedereingliederung in Horizon Europe wieder aufgenommen hätten. Wie haben Sie das aufgenommen?
Wir freuen uns, dass die Gespräche wieder aufgenommen werden. Beide Seiten möchten schnell eine Einigung erzielen. Ich hoffe, dass dies zu einem langfristigen Abkommen führen wird. Denn das Schlimmste für uns wäre vielleicht, wenn wir für ein Jahr unterschreiben und ein paar Monate oder Jahre später wieder ausgeschlossen werden. Wir brauchen Stabilität.
Letztendlich wird sicher das Schweizer Volk entscheiden...
Ja. Wenn der Bundesrat beschliesst, ein Abkommen mit Europa zu unterzeichnen, werden wir um eine Volksabstimmung nicht herumkommen, und das ist gut so. Als der Bundesrat 2021 beschlossen hatte, die Verhandlungen abzubrechen, hatte das Volk kein Mitspracherecht. Ich hoffe, dass es dieses Mal die Möglichkeit hat, sich zu äussern. Einige Parteien positionieren sich bereits sehr entschlossen gegen ein eventuelles Abkommen mit der EU. Wir müssen also eine gesellschaftliche Debatte führen: Wollen wir das Bildungs‑, Forschungs‑ und Innovationsmodell, das der Schweiz zum Erfolg verholfen hat, weiterführen oder nicht? Wenn die Herausforderungen richtig dargestellt werden, entscheidet das Schweizer Volk immer mit Weitblick.