Eine Flut innovativer Indikatoren

KI kann neben der Marktstimmung auch zunehmend andere Daten ermitteln, die für Anleger nützlich sind. Ob Kreditkartentransaktionen, Satellitenbilder, Internet-Recherchen oder GPS-Ortung: Alles wird von Rechnern ausgewertet.

Ludovic Chappex

«Ohne Daten sind Sie nur eine Person mit einer Meinung.» Dieses berühmte Zitat des amerikanischen Statistikers Edwards Deming, der 1993 verstarb, erschien noch nie so zutreffend wie heute. In der Finanzwelt wird das Universum auswertbarer Daten, mit denen man sich einen Vorteil am Markt verschaffen will, immer grösser. Weit entfernt von traditionellen Wirtschaftsindikatoren werden diese sogenannten alternativen Daten aus einer Vielzahl von Quellen geschöpft.

Es ist ein ganzes Sammelsurium: Kreditkartentransaktionen, Web-Verkehr, mobile Geräte, IoT-Sensoren (Internet of Things), meteorologische Daten, Satellitenbilder, Flüge von Geschäftsflugzeugen, Patienteneinweisungen in Krankenhäuser, ESG-Daten (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung) oder auch staatliche Verträge. Natürlich nicht zu vergessen die Stimmungen, die in der Presse und in sozialen Netzwerken zum Ausdruck kommen und die in diesem Dossier behandelt werden. Da diese Ansätze auf riesigen Datenbänken beruhen, sind maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz stark gefragt. Die Zahlen belegen einen raschen Aufschwung: Heute gibt es 20-mal mehr Anbieter von alternativen Daten als vor 30 Jahren – knapp 450 derzeit aktive Anbieter gegenüber lediglich 20 im Jahr 1990 –, heisst es in einem Bericht der Alternative Investment Management Association (AIMA). Ausserdem nutzen mehr als Dreiviertel der Investmentfirmen heute alternative Daten, gemäss den Angaben von Ernst & Young Associates. 

An aktuellen Beispielen mangelt es nicht. Im vergangenen April veröffentliche die Schweizer Nationalbank (SNB) ein Papier mit dem Titel «Nowcasting Economic Activity Using Transaction Payment Data». In diesem Aufsatz erläutert die SNB, wie sie mithilfe von Daten aus Hochfrequenzzahlungen Prognosen über die Wirtschaftsaktivität anstellt. «Wir konzentrieren uns auf die Schweiz und prognostizieren das reale BIP auf Basis einer beispiellos umfassenden Menge von Daten aus Zahlungstransaktionen: eine Kombination aus Daten des Echtzeit-Bruttoabwicklungssystems sowie Daten über Debit- und Kreditkarten», erklären die Autoren. Sie führen weiter aus: «Nach einem stark datengestützten Ansatz des maschinellen Lernens stellen wir fest, dass Zahlungsdaten ein exaktes und präzises Signal für die Wirtschaftstätigkeit darstellen. (…) Die Zahlungsmodelle übertreffen die Benchmark-Modelle in Krisenzeiten um bis zu 11 Prozent und um bis zu 12 Prozent in normalen Phasen. Wir schliessen daraus, dass Modelle, die auf Zahlungsdaten basieren, integraler Bestandteil der Entscheidungsprozesse von Politikern sein sollten.»

 

Man fragt sich, ob Anleger auf diese neuen Instrumente tatsächlich verzichten können

 

Im Januar dieses Jahres veröffentlichte die spanische Zentralbank (Banco de España) auf ihrer Website eine Publikation mit dem Titel «A New Supply Bottleneck Index Based on Newspaper Data». Die Bank präsentiert hierin einen neuen monatlichen Indikator, den sie entwickelt hat, um Lieferengpässe anhand von Zeitungsartikeln zu bestimmen. «Der Supply Bottleneck Index (SBI) liefert eine stimmige Beschreibung der Lieferprobleme aufgrund von Kriegen, Naturkatastrophen, Streiks und, in jüngster Zeit, der Corona-Pandemie», schreiben die Autoren. Da fragt man sich schon, ob Anleger tatsächlich auf solche Instrumente verzichten können.

Die Antwort lautet «nein», wenn man Julien Leegenhoek folgen will, Gründer und CEO des Fondsmanagers Taranis. Er ist auf die Analyse alternativer Daten spezialisiert. Daten werden seiner Meinung nach immer stärker den Ausschlag geben. Sein Unternehmen, das 2020 gegründet wurde mit Sitz in Genf, zieht bei der Zusammensetzung seiner Fonds keinen Wirtschaftsindikator heran. Das ist etwas Besonderes. Damit stellt Taranis quasi einen Prototyp dar für ein Vorgehen abseits der ausgetretenen Pfade der Finanzwirtschaft. «Wir versuchen, die kollektive Sichtweise ausschliesslich durch die Analyse der Marktstimmung und anderer alternativer Daten nicht finanzieller Art zu ermitteln», erklärt Julien Leegenhoek. «Es handelt sich hierbei um eine auf die Finanzwelt angepasste Massenpsychologie.»

Dieser radikale Ansatz hat Wissenschaftler durchaus verblüfft. So äussert sich Amit Goyal, Finanzprofessor an der Universität Lausanne, zurückhaltend: «Man muss das langfristig betrachten. Ich zweifele, dass eine solche Strategie immer stichhaltig ist.» Die ersten Ergebnisse sind allerdings recht vielversprechend. Anfang Oktober wurde auf der Website des Unternehmens stolz verkündet, dass der Fonds Taranis Market Sentiment nun schon im dritten Jahr in Folge für die HFM European Performance Awards 2023 nominiert worden sei.