Beauty‑Branche auf Gesundheitstrip
Sie wächst und wächst: Mit einem jährlichen Plus von rund 5 Prozent beeindruckt die globale Beauty‑Branche die Anleger mit ihrer unglaublichen Konstanz. Hinter diesem Erfolg zeichnen sich allerdings gravierende Veränderungen ab.
Bertrand Beauté
«Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?» So befragt die Königin in Grimms Märchen «Schneewittchen» allmorgendlich ihr Spiegelbild. Heute dienen die sozialen Netzwerke als Zauberspiegel, der unseren Narzissmus fördert. Und das Aussehen ist mehr denn je ein zentrales Thema in unserer Gesellschaft, wie die vielen Erzeugnisse der Schönheitsindustrie zeigen. «Es handelt sich um einen Markt, dem es gut geht», unterstreicht Delphine Le Louët, Analystin bei der Bank Société Générale. «Die Covid‑19‑Pandemie hat dieses gute Befinden übrigens noch verstärkt. Nachdem die Leute eine Zeit lang den ganzen Tag im Pyjama verbracht hatten, verspürten sie das Bedürfnis, sich zu pflegen und zu stylen.»
Laut einem McKinsey‑Bericht von Mai 2023 hat der weltweite Beauty‑Markt – hier definiert über die Produktbereiche Hautpflege, Parfüm, Make‑up und Haarpflege – im Jahr 2022 einen Umsatz von rund 430 Mrd. Dollar generiert. Dieser Rekord dürfte schon bald übertroffen werden: Die amerikanische Beratungsfirma geht davon aus, dass die Einnahmen bis 2027 auf 580 Mrd. Dollar ansteigen werden, was einem jährlichen Wachstum von 6 Prozent entspräche.
Diese Prognosen entsprechen dem Trend der vergangenen Jahre. «Der Schönheitsmarkt ist strukturell im Wachstum begriffen. Er verzeichnet seit zwei Jahrzehnten ein durchschnittliches jährliches Plus von 5 Prozent», betont Paul Rouvière, Analyst bei der Investmentbank Bryan, Garnier & Co. «Abgesehen von den Jahren 2009 (+1 Prozent) und 2020 (‑8 Prozent), die von den Folgen der Krise von 2008 beziehungsweise der Pandemie geprägt waren, wird diese Branche kaum durch das wirtschaftliche Umfeld beeinflusst. 2023 legte sie trotz Inflation um 8 Prozent zu, und zwar nach einem Wachstum von 6 Prozent 2022.»
Das Ergebnis: «Der Beauty‑Sektor stellt eine gute langfristige Investition dar, weil er in den nächsten Jahren weiter wachsen wird», betont Alyssa Cornuz, leitende Analystin für die Strategie «Sustainable Healthy Living Equities» bei Robeco. Marine Dubrac, Co‑Managerin für den Bereich Wellness‑Strategie bei Thematics Asset Management, teilt diese Meinung: «Ich bin zuversichtlich, was die Zukunft des Schönheitsmarkts angeht. Sein Wachstum wird mindestens für die nächsten zehn Jahre anhalten.»
Dieser Trend hat mehrere strukturelle Ursachen. «Die Anwendung von Schönheitsprodukten wie Kosmetika, Parfüm und Pflegecremes ist in den Schwellenländern ein sozialer Marker», erklärt Marine Dubrac. «Die Entwicklung der Mittelschicht, insbesondere in Asien, aber auch in Südamerika, im Nahen Osten und in geringerem Masse in Afrika, beflügelt das Wachstum der Branche.» Dem französischen Konzern L’Oréal zufolge wird sich der weltweite Schönheitsmarkt dadurch bis 2030 um 600 Millionen zusätzliche Konsumentinnen und Konsumenten vergrössern.
In den Industrieländern wiederum trägt die Alterung der Bevölkerung zum stetigen Wachstum bei. «Langlebigkeit liegt im Trend», betont Alyssa Cornuz. «Die Menschen leben länger und wollen länger schön bleiben. Sie sind gerne bereit, immer mehr Geld für Anti‑Aging‑Produkte und ‑Therapien auszugeben.»
Dieses grundlegende Wachstum sollte jedoch nicht über die Veränderungen hinwegtäuschen, die der Sektor derzeit durchmacht. «Lange Zeit wurde Schönheit als etwas Oberflächliches betrachtet», fährt Alyssa Cornuz fort. «Heute ist das nicht mehr der Fall. Die Schönheit einer Person spiegelt zunehmend ihren Gesundheitszustand und nicht mehr nur ihr Erscheinungsbild wider.» Dieser Ansicht ist auch Paul Rouvière: «Die Verbraucher legen immer mehr Wert auf ihre Gesundheit und den Schutz ihrer Haut. Das zeigt sich auch in ihrer Vorliebe für Produkte, die von Dermatologen empfohlen werden.» Dieses Phänomen wird durch die Alterung der Bevölkerung und die Zunahme von Hautkrankheiten verstärkt, die durch Umweltverschmutzung, Stress und Sonneneinstrahlung verursacht werden und mittlerweile weltweit mehr als jeden vierten Erdenbürger betreffen.»
«Was bedeutet Schönheit für Sie?» Fast 50 Prozent der Befragten antworteten: «gesund aussehen»
Ergebnis einer europaweiten Euromonitor‑Umfrage
Das Marktforschungsinstitut Euromonitor hat europaweit die Frage gestellt: «Was bedeutet Schönheit für Sie?» Laut den im Mai 2023 veröffentlichten Ergebnissen antworteten die meisten Befragten (fast 50 Prozent) «gesund aussehen», während weniger als 30 Prozent für die Option «ein jugendliches Aussehen bewahren» stimmten.
Diese Verschiebung von der Schönheit des Aussehens hin zu einer Schönheit, die auf das Wohlbefinden ausgerichtet ist, hat konkrete Folgen. In der Vergangenheit dominierten Kosmetika den Markt in den westlichen Ländern. Heute ist das nicht so. Das Make‑up wurde von der Hautpflege verdrängt. L’Oréal zufolge machten Hautpflegeprodukte 2023 fast 40 Prozent des gesamten Beauty‑Markts aus, während sich der Anteil von Make‑ups auf 17 Prozent belief.
Und da es jetzt mehr um Gesundheit und Wohlbefinden geht, sind Euromonitor zufolge 85 Prozent der Verbraucher bereit, mehr für Schönheitsprodukte zu bezahlen, deren Wirksamkeit oder Nutzen nachgewiesen ist. «Während das Verbrauchersegment vom Volumen her zwar weiterhin sehr wichtig ist, kann man eine Premiumisierung beobachten, bei der die Verbraucher mehr Geld für immer hochwertigere Artikel ausgeben», erläutert Delphine Le Louët von der Société Générale.
«In den letzten Jahren hat sich beispielsweise das Segment der Dermokosmetik (von Dermatologen empfohlene Produkte, die in der Regel teurer in Apotheken als in Supermärkten verkauft werden) besser entwickelt als der gesamte Beauty‑Markt: L’Oréal zufolge verzeichnete die Dermokosmetik 2023 ein Wachstum von 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, während die gesamte Schönheitsindustrie nur um 8 Prozent zulegte. «Die Verbraucher sind weniger naiv als früher», meint Tancrède Amacker, CEO des Waadtländer KMU Cellap Laboratoire, das auf Kosmetika spezialisiert ist. «Sie werden ein Produkt nicht mehr deshalb kaufen, weil sie im Fernsehen gesehen haben, dass Julia Roberts oder eine andere Schauspielerin es benutzt. Sie wollen sicher sein, dass es wirklich funktioniert, dass die Wirksamkeit durch wissenschaftliche Studien belegt ist.» Die Verbraucher erwarten auch Sicherheit und achten stärker auf die Zusammensetzung der Produkte. «Hautpflege wird nicht wie jedes andere Konsumprodukt wahrgenommen.
Die Käufer legen grossen Wert auf Qualität und Sicherheit», erklärt Paul Rouvière. «Man verteilt nicht einfach irgendetwas auf seiner Haut.» Für Tancrède Amacker ist das ein enormer Wandel: «Vor zehn Jahren war es den Verbrauchern egal, wie die Produkte zusammengesetzt waren», berichtet der CEO der Firma Cellap Laboratoire, die seit 1987 Kosmetika herstellt. «Heute stellen uns unsere Kunden jedes Mal Fragen, wenn wir einen Inhaltsstoff in einem unserer Produkte ändern. Sie wollen wissen, warum wir das tun, was sich dadurch ändert und ob das ohne Risiko ist.» Daher werden in seinem Unternehmen Inhaltsstoffe mit schlechtem Ruf oder unbekannter Wirkung aus den Produkten entfernt und natürliche Moleküle bevorzugt. Denn solche Moleküle seien stark nachgefragt bei den Verbrauchern. Um sich über die Schädlichkeit von Inhaltsstoffen oder die Wirksamkeit von Produkten zu informieren, folgen die Kunden immer häufiger der Meinung von Influencern. «Die Bedeutung sozialer Netzwerke in der Beauty‑Branche ist inzwischen unübertroffen», meint Delphine Le Louët. «Selbst die grossen Marken sind gezwungen, Allianzen mit Instagrammern einzugehen, die aus dem Nichts auftauchen.»
Tancrède Amacker bewertet diese Entwicklung als sehr positiv: «Der Mechanismus der sozialen Netzwerke ist äusserst interessant. Seriöse Influencer sind Sachkundige, die den Verbrauchern helfen, die Produkte, die sie verwenden, zu verstehen und mehr darüber zu erfahren.» Der Chef von Cellap macht keinen Hehl daraus, dass er oft Influencer in die Unternehmenslabors holt, damit sie die Botschaft, die er verbreiten möchte, an ihre Follower weitergeben.
«Die grossen Konzerne sind in der Lage, kleine Marken aufzukaufen, die es geschafft haben, einen Markttrend aufzugreifen»
Alyssa Cornuz, leitende Analystin für die Strategie «Sustainable Health Living Equities» bei Robeco
Die sozialen Netzwerke haben zum Entstehen vieler kleiner, erfolgreicher Marken beigetragen, die von einem Internet‑Buzz für eines ihrer Produkte profitiert haben, ohne Unsummen für das Marketing auszugeben. «Die Netzwerke fungieren als Wachstumsvektor für die kleinen Akteure», sagt Marine Dubrac von Thematics Asset Management. Für Branchenriesen wie den französischen Konzern L’Oréal, das britisch‑niederländische Unternehmen Unilever, den US‑Hersteller Estée Lauder oder die deutsche Firma Beiersdorf ist das kein Grund zur Besorgnis. «Die grossen Konzerne sind in der Lage, kleine Marken aufzukaufen, die es geschafft haben, einen Markttrend aufzugreifen», betont Alyssa Cornuz. L’Oréal hat beispielsweise 2023 die australische Marke Aēsop, 2022 die amerikanische Marke Skinbetter Science und 2021 die japanische Marke Takami übernommen. Der deutsche Beiersdorf‑Konzern, der unter anderem die Marken Nivea, Eucerin und La Prairie vermarktet, kündigte im Februar 2024 die Übernahme der Clinique La Prairie in Montreux an. Sie ist weltweit für ihr Know‑how in Sachen langer Lebensdauer bekannt. Und der amerikanische Konzern Estée Lauder hat 2023 die Übernahme der Marke Tom Ford für 2,3 Mrd. Dollar abgeschlossen. Deren Sparte Tom Ford Beauty (Make‑up und Parfüm) verzeichnet zunehmende Erfolge.
In gewisser Weise sind die sozialen Netzwerke wie der Zauberspiegel der eitlen Königin im Schneewittchen‑Märchen, der eines Tages seine Meinung ändert. Im Gegensatz zur Textil‑ oder Lebensmittelindustrie ist die Bedeutung von Marken im Schönheitssektor ziemlich begrenzt. Die Verbraucher wechseln sie je nach Trend oder Innovationen. Umso mehr, als im Internet schnell ein «Bad Buzz» auftauchen kann. Aber auch hier haben die grossen Marken einen Trumpf im Ärmel.
«Lynchmobs von Marken oder von Produkten kommen in den sozialen Netzwerken sehr häufig vor, was für ein kleines Unternehmen allerdings fatal sein kann», sagt Marine Dubrac. «Branchenriesen hingegen verfügen über die Marketinginstrumente, um negative Propaganda zu kontrollieren.» Anders ausgedrückt: Sie wissen, wie man einen Spiegel zum Schweigen bringt, der es wagt, zu sagen: «Du bist nicht mehr die Schönste im ganzen Land.»
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