Biometrie revolutioniert den Alltag

Der weltweite Markt für biometrische Anwendungen dürfte seinen Wert in den kommenden Jahren verdreifachen und 2030 nahezu 150 Mrd. Dollar erreichen. Dieser Trend stösst auf Begeisterung und weckt zugleich Ängste.

Bertrand Beauté

Wir schreiben das Jahr 1989. In den Kinosälen der Welt entdecken die Zuschauer verblüfft, wie sich Robert Zemeckis und Bob Gale, die Drehbuchautoren der dreiteiligen Filmreihe «Zurück in die Zukunft», das 21. Jahrhundert vorstellen. Neben fliegenden Autos, dem Hoverboard, selbsttrocknender Kleidung, Servicerobotern und weiteren Innovationen, die letztendlich niemals verwirklicht wurden, antizipiert der zweite Film bereits den allgemeinen Einsatz von Biometrie. Denn als die Hauptdarsteller von der berühmten Automobillegende DeLorean in das Jahr 2015 katapultiert werden, läuft alles über ein Lesegerät ihres Fingerabdrucks: Auf diese Weise können sie die Tür ihres Hauses öffnen, sich von der Polizei identifizieren lassen und ihr Taxi zahlen – ganz einfach. 

Ende der 1980er-Jahre waren diese Möglichkeiten noch reine Zukunftsmusik. Doch die Fantasien von einst werden langsam Wirklichkeit. Denn die Möglichkeiten der Biometrie nehmen bereits einen grossen Platz in unserem Leben ein. Zahlreiche Unternehmen verwenden mittlerweile Fingerabdrücke oder eine Gesichtserkennung, um ihren Mitarbeitenden Zugang zu ihren Räumlichkeiten zu gewähren. Auch zahlreiche Flughäfen setzen diese Technologien bereits ein. Die meisten unserer Smartphones wiederum können ganz einfach per Fingerabdruck entsperrt werden oder indem man sein Gesicht einfach vor die Kamera hält. Ganz zu schweigen von den biometrischen Reisepässen, die mittlerweile in mehr als 150 Ländern Standard sind.

«Der Einsatz biometrischer Systeme nimmt rasant zu. Sie halten immer mehr Einzug in unseren Alltag», bestätigt Christophe Remillet, CEO von OneVisage, einem Schweizer Start-up, das sich auf Gesichtserkennung spezialisiert hat. Der weltweite Markt für Biometrie wird für 2023 auf 41,08 Mrd. Dollar geschätzt und dürfte nach den Prognosen der Analysefirma Global View Research bis zum Jahr 2030 150,58 Mrd. Dollar schwer sein. Das entspräche einem jährlichen Wachstum von 20 Prozent für diesen Zeitraum. Die Biometrics Research Group schätzt ihrerseits den Markt für 2026 auf 77,9 Mrd. Dollar. 

 

«Es ist unstrittig, dass wir immer mehr auf Biometrie setzen werden, um die Identifizierung zu erleichtern und die Sicherheit zu verbessern»

Christophe Remillet, CEO von OneVisage

 

Wie kommt es zu diesem Hype? «Die Entwicklung der Biometriesysteme ist eng mit dem Scheitern der anderen Identifizierungssysteme – Passwörter, PIN-Codes, OTP-Codes – verbunden», erklärt Christophe Remillet. «Bei Passwörtern zum Beispiel muss sich jede Person Dutzende merken. Sie sollten alle komplex und unterschiedlich sein, damit sie auch wirklich sicher sind. In Wirklichkeit verwenden die Menschen jedoch dasselbe Passwort für mehrere Konten, und meist handelt es sich dabei um äusserst einfache Kombinationen, die auch leicht zu hacken sind. Es ist unstrittig, dass wir immer mehr auf Biometrie setzen werden, um die Identifizierung zu erleichtern und die Sicherheit zu verbessern.»

Die grossen Tech-Firmen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft haben natürlich für ihre Produkte biometrische Systeme entwickelt. Es gibt jedoch auch zahlreiche auf Biometrie spezialisierte Unternehmen. Und diese Branche lässt sich in drei Tätigkeitsfelder einteilen: die Herstellung von Sensoren, die Entwicklung der Erkennungssoftware und Cloud-Services.

Biometrie bedeutet eigentlich wortwörtlich «Vermessung des Lebens» und umfasst sämtliche Verfahren, mit denen eine Person durch eine biologische Komponente oder ein Verhalten identifiziert werden kann. Am häufigsten eingesetzt wird die Erkennung von Gesichtern und Fingerabdrücken. Diesen Anwendungen dürfte eine rosige Zukunft bevorstehen. Es gibt jedoch zahlreiche andere biometrische Verfahren wie Spracherkennung oder die Identifizierung der Iris, der Venen, des Körpergeruchs oder der Tippgeschwindigkeit auf einer Tastatur. 

Für einen einfacheren Kontakt mit ihren Kunden per Telefon setzt die Migros Bank beispielsweise seit 2020 eine automatische Spracherkennung ein, ebenso wie PostFinance (seit 2018) und Swisscom (seit 2021). De facto werden Kunden, die einwilligen, gebeten, den Unternehmen einen Abdruck ihrer Stimme zu geben, der bei späteren Anrufen verwendet wird, um sie zu identifizieren. Hierdurch können die üblichen Fragen zum Geburtsdatum der Kunden oder anderen Angaben wegfallen. Laut der Tageszeitung «Le Matin Dimanche» hat der gelbe Riese rund 1,35 Millionen Stimmabdrücke gesammelt, was mehr als der Hälfte seiner Kunden entspricht.

«Es gibt vielfältige Anwendungen für Biometrie, die wiederum vielfältige Chancen bieten», unterstreicht Laetitia Ramelet, Projektleiterin bei TA-SWISS, einer Stiftung, die eine umfassende Studie über die Chancen und Risiken der Biometrie im Jahr 2022 durchgeführt hat. «Biometrie ersetzt nicht nur unsere Passwörter zum Entsperren unserer Smartphones, sondern könnte letztendlich auch für sämtliche Services eingesetzt werden, bei denen eine Person identifiziert werden muss.» Am 20. Juli dieses Jahres hat Amazon beispielsweise die Einführung seines neuen Bezahlsystems Amazon One publik gemacht: Es funktioniert per Handflächenerkennung und wurde in allen Geschäften der amerikanischen Handelskette Whole Foods Market, die Amazon 2017 übernommen hatte, installiert. Tencent aus China sowie der französische Anbieter für elektronische Zahlungen Worldline testen ebenfalls die Zahlung per Handfläche.

Biometrie findet auch in ganz anderen Bereichen Anwendung. In der Ukraine werden zum Beispiel per Gesichtserkennung verschollene Personen gesucht oder Leichen identifiziert. Auch im Gesundheitswesen wird Biometrie künftig gefragt sein. «Die Maschinen können über das Gesicht, die Stimme oder die gesprochenen Worte weitaus mehr als nur die Identität einer Person feststellen. Sie können auch Emotionen oder den körperlichen und mentalen Zustand erkennen», erläutert Laetitia Ramelet. «In der Medizin dürfte die biometrische Erkennung dabei helfen, frühzeitig Leiden wie Parkinson, Alzheimer oder Depressionen zu erkennen.» 

Die Befürworter von Biometrie führen zwei wesentliche Vorteile dieser Technologie ins Feld: Sie sei einfach anzuwenden und sicher. «Bei der Biometrie braucht man keinen Code und auch keine Software in einem Chip. Man zahlt ganz einfach mit seiner Identität», so Gilles Grapinet, der CEO von Worldline, in einem Interview mit BFM TV. So viel zur einfachen Anwendung. Was die Sicherheit betrifft: «Alle Hacker, die versuchen, Passwörter zu stehlen, werden nicht weiterkommen», so Christophe Remillet. «Es wird keine Phishingangriffe mehr geben.»

Doch Biometrie ist nicht unfehlbar. Anfang 2023 konnte beispielsweise ein Journalist des US-Magazins «Vice» die Spracherkennung seiner Bank mit einer Stimme überlisten, die mithilfe künstlicher Intelligenz (KI) erzeugt worden war. Und KI steht kostenlos zur Verfügung. Auch bei Gesichts- und Fingerabdruckerkennungssystemen hat man Fehler entdeckt. «Es gibt keine unfehlbare Technologie», gibt Sébastien Marcel, Leiter der Forschungsgruppe über biometrische Sicherheit und Datenschutz, zu bedenken.

 

«Ich warte sehnlichst auf strengere Vorschriften, denn es gibt zahlreiche Unternehmen, die Biometrie missbrauchen»

Christophe Remillet, CEO von OneVisage

 

Die Entwicklung der Biometrie sorgt aber auch für Beunruhigung. Denn viele fürchten, dass ein breiter Einsatz von biometrischen Anwendungen, so wie heute bereits in autokratisch regierten Staaten wie China an der Tagesordnung, einen echten Übergang markieren könnte – von der Utopie «Zurück in die Zukunft 2» zur erschreckenden Fiktion des Klassikers «1984» von George Orwell. Das Buch schildert, wie die gesamte Bevölkerung lückenlos überwacht wird. Um so etwas zu verhindern, empfiehlt TA-SWISS in seinem Bericht die Einführung eines strengen rechtlichen Rahmens in der Schweiz. Dieser Ansicht ist auch Christophe Remillet: «Eine Zukunft wie in ‹1984› interessiert mich nicht. Ich warte sehnlichst auf strengere Vorschriften, denn es gibt zahlreiche Unternehmen, die Biometrie missbrauchen. Und dies führt dazu, dass die Menschen Angst haben, durchgehend kontrolliert zu werden.» Der CEO von OneVisage geht aber nicht davon aus, dass diese Ängste eine weitere Verbreitung und Nutzung bremsen werden. «Die Technologie wird weiterentwickelt. Heutzutage weigert sich niemand, sich im Auto anzuschnallen. Genauso wird es mit biometrischen Anwendungen sein. In drei bis fünf Jahren wird sie überall im Einsatz sein, und niemand stellt das dann noch in Frage.»

Authentifizierung und Identifizierung

Biometriesysteme dienen hauptsächlich zwei Zwecken: der Authentifizierung und der Identifizierung. Bei der Authentifizierung handelt es sich um das einfachere Verfahren, das insbesondere in unseren Smartphones angewendet wird und uns auch Zugang zu Gebäuden ermöglicht. Der Nutzer muss für die Konfiguration des Systems zunächst seine biometrischen Daten mithilfe eines Sensors erfassen lassen (einen Fingerabdruck oder sein Gesicht). Diese Daten werden gespeichert und dienen dann als Referenz. Wenn man das System später aktiviert, etwa zum Entsperren eines Smartphones, gleicht das System (Fingerabdrucklesegerät oder Kamera) die Daten mit den gespeicherten ab. Sollten beide übereinstimmen, wird das System entsperrt. Schlägt der Datenabgleich fehl, bleibt der Zugang verwehrt. Bei der Authentifizierung muss das biometrische System also nach dem Abgleich mit «Ja» oder «Nein» antworten. Alle Authentifizierungssysteme enthalten drei Kernelemente: einen Sensor zur Erfassung der biometrischen Daten, eine Speichervorrichtung und eine Software zum Abgleich beider Datensätze.

Die Identifizierung hingegen ist weitaus komplexer, denn hierbei geht es darum, einer unbekannten Person anhand biometrischer Daten einen Namen zu geben. Bei einer Polizeiermittlung können die Ermittler beispielsweise aus einem Überwachungsvideo das Gesicht einer Person extrahieren. Dieses Gesicht kann dann beispielsweise mit einer Fahndungsdatenbank abgeglichen werden. In diesem Fall wird das System nicht mit «Ja» oder «Nein» antworten, sondern mit einem Prozentsatz der Übereinstimmung. Dabei kann es allerdings zu Fehlern kommen: Im Jahr 2020 blieb Robert Williams, ein schwarzer Amerikaner, 30 Stunden lang in Polizeigewahrsam, weil die von der Polizei von Detroit verwendete Gesichtser kennungssoftware das Foto seines Führerscheins und das von Überwachungs kameras erfasste Bild eines Uhrendiebs für identisch hielt.