3 Fallbeispiele
Der Ausschluss der Schweiz aus europäischen Programmen hat ganz konkrete Auswirkungen auf Forschung und Bildung. Drei Fallbeispiele.
Bertrand Beauté
ERASMUS+: DIE REISE IST ERST EINMAL ZU ENDE
Am 9. Februar versammelte sich eine Handvoll Studierender auf dem Bundesplatz in Bern. Ihr Ziel: sich Gehör verschaffen an einem Tag, an dem die Schweiz ein eher trauriges Jubiläum beging. Denn seit zehn Jahren ist die Schweiz nicht mehr Mitglied im Programm Erasmus+. In der kollektiven Vorstellung ist der Name des niederländischen Universalgelehrten Erasmus von Rotterdam inzwischen eng mit Auslandssemestern verbunden, die Studierende in Europa weit entfernt von der Heimatuni verbringen, um zwischen zwei Partys Vorlesungen an einer anderen europäischen Universität zu besuchen. "Das Programm ist ein Opfer des Bildes, das der Film "Barcelona für ein Jahr" vermittelt hat", bedauert Olivier Tschopp, Direktor von Movetia, der schweizerischen nationalen Agentur zur Förderung von Austausch und Mobilität im Bildungssystem. "Doch Erasmus+ ist weit mehr als das. Zunächst einmal ist Erasmus+ nicht allein Universitätsstudierenden vorbehalten. Denn das Angebot hat für alle Ebenen im Bildungswesen etwas zu bieten. Ausserdem ist Erasmus+ nicht nur ein Austauschprogramm, sondern fördert lebenslanges Lernen und umfasst auch Kooperationsangebote."
Es ist dieses Programm, das die Schweiz 2014 wegen Einschränkungen bei der Personenfreizügigkeit verlassen musste, um anschliessend ein Parallelsystem zu entwickeln, das von einer neuen Agentur – Movetia – umgesetzt wird. "Seinerzeit dachte die Schweiz, sie könne auf Erasmus+ verzichten. Die Zahlen belegen heute, dass wir uns geirrt haben", seufzt Luciana Vaccaro, Präsidentin von swissuniversities. "Der Bundesrat hatte sich 20 Prozent mobile Studierende zum Ziel gesetzt. Zehn Jahre später liegt dieser Anteil lediglich bei 15 Prozent." Zum Vergleich: Die Mobilitätsquote in Österreich beträgt 24 Prozent.
"Wären wir in Erasmus+ geblieben, hätten wir eine höhere Mobilitätsquote", so Olivier Tschopp fort. Warum? Der Austausch hängt jetzt von Vereinbarungen ab, die jede Schweizer Hochschule mit Instituten im Ausland schliesst. Ein solches Unterfangen wird schnell mühsam: "Das ist so, als wolle man mit der Schweizerischen Bundesbahn fahren und müsste statt des Generalabonnements für jede Strecke einen Fahrschein kaufen", erläutert Olivier Tschopp. "Die Länder, die Teil von Erasmus+ sind, zahlen dagegen nur einmal und haben problemlos Zugang zu allen Destinationen."
Bei Kooperationen profitieren Schweizer Studierende und Institute nicht von denselben Instrumenten und Möglichkeiten (technische Plattformen, Netzwerke von Nutzern, Bündnisse zwischen Instituten) wie andere in Europa. "Kooperationsvorhaben zwischen schweizerischen und europäischen Bildungseinrichtungen sind schwierig, weil man sich mit strengen verwaltungstechnischen Auflagen auseinandersetzen muss. Das hat Auswirkungen auf das Angebot der Institute und somit auf die Qualität der Bildung", bedauert Oliver Tschopp. "Das ist umso trauriger, als eine gute Bildung, inklusive einer internationalen Komponente, die Grundlage für gute Forschung darstellt. Es liegt in unserem Interesse, uns Erasmus+ wieder anzuschliessen."
KALTE DUSCHE FÜR DIE KERNFUSION
"Dass wir nicht mehr mit unseren europäischen Kollegen zusammenarbeiten können, ist schon eine herbe Enttäuschung", kommentiert Dr. Yves Martin, stellvertretender Direktor des Swiss Plasma Center an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL), die Folgen des Ausschlusses der Schweiz aus europäischen Forschungsprogrammen im Jahr 2021. Damals stammten mehr als 50 Prozent der Finanzmittel des Swiss Plasma Center aus europäischen Fonds. Drei Jahre später ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Und die fällt durchwachsen aus.
"Bei EUROfusion (Organisation, die die europäische Forschung im Bereich der Kernfusion begleitet, Anm. d. R.), haben wir rasch eine Lösung gefunden", berichtet der Wissenschaftler. "Wir sind jetzt assoziiertes Mitglied, das heisst, wir können EUROfusion, genau wie vorher, immer noch Projekte vorschlagen. Wenn die Projekte akzeptiert werden, führen wir sie durch und schicken die Rechnung nach Bern, von dort wird sie dann beglichen. Alles funktioniert wie früher, nur der Verwaltungsaufwand ist etwas höher. Allerdings erhalten wir kein Geld mehr von der Europäischen Union." Die Kooperation ist so eng, dass Professor Ambrogio Fasoli, Direktor des Swiss Plasma Center, am 1. Januar 2024 zum neuen Programmleiter von EUROfusion berufen wurde.
Beim Internationalen Thermonuklearen Versuchsreaktor (ITER) – derzeit das grösste weltweite wissenschaftliche Projekt, mit dem die Machbarkeit der Kernfusion nachgewiesen werden soll – ist die Lage der Schweizer nicht so rosig. "Wir wurden aus dem ITER‑Programm ausgeschlossen und sind es immer noch", bedauert Yves Martin. "Die Verträge, die 2021 liefen, werden bis zum Ende geführt, aber wir können keine neuen Projekte mehr vorschlagen. Wir erhalten noch nicht einmal mehr Projektausschreibungen. Das ist wirklich problematisch."
Einen kleinen Lichtblick gibt es immerhin: "ITER braucht uns und unsere Expertise", erklärt Yves Martin. "Ohne falsche Bescheidenheit zählen wir im Bereich der Kernfusion zu den Besten der Welt." Denn die EPFL hat ein grosses Ass im Ärmel: den experimentellen Kernfusionsreaktor mit dem Namen "Tokamak à configuration variable" (TCV). "Mit dem TCV lassen sich ganz verschiedene Plasmaformen erzeugen und untersuchen. Eine solche Flexibilität gibt es praktisch nirgendwo sonst", so Yves Martin, sichtlich erfreut. Das Ergebnis: Seit 2022 kann das Swiss Plasma Center bei bestimmten Projekten in Verbindung mit dem ITER wieder miteinbezogen werden. "Aber die Schweizer Industrie ist nach wie vor komplett aus dem ITER‑Programm ausgeschlossen", sagt der Forscher. Vor dem Ausschluss der Schweiz lieferte beispielsweise die Firma VAT Group, die an der Schweizer Börse kotiert ist, Ventile für das ITER‑Programm. Damit ist es nun vorbei.
DER KAMPF UM DIE QUANTEN
"Das Anwendungspotenzial der Quantenphysik ist riesig. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Schweiz diesen technologischen Wandel verpassen würde", macht Nicolas Gisin auf Anhieb klar. Er ist Honorarprofessor an der Universität Genf und an der Constructor University in Bremen sowie Mitgründer von ID Quantique, ausserdem Präsident der Swiss Quantum Initiative. "Zurzeit investieren alle Länder massiv, um in diesem Bereich spitze zu sein." Die USA haben 2018 die National Quantum Initiative mit einem Budget von annähernd einer Mrd. Dollar pro Jahr auf den Weg gebracht (968 Mio. Dollar sind für 2024 geplant). China hat zehn Mrd. Dollar in sein nationales Quantenlabor gesteckt. Die Europäische Union setzt auf das Programm Quantum Flagship, das 2018 ins Leben gerufen wurde. Hierfür wurde eine Mrd. Euro über einen Zeitraum von zehn Jahren bereitgestellt, also 100 Mio. Euro pro Jahr. Zu dieser Summe kommen die Investitionen der einzelnen europäischen Länder hinzu (2021 kündigten Deutschland und Frankreich an, 400 Mio. Euro bzw. 200 Mio. Euro bis 2025 investieren zu wollen).
Und die Schweiz? Im Mai 2022 gab der Bundesrat den Start der Swiss Quantum Initiative mit einem Budget von fünf Mio. Franken jährlich für 2023 und 2024 bekannt. "Die von den Ländern investierten Beträge sind nicht vergleichbar, weil hierin nicht die gleichen Dinge enthalten sind", erklärt Nicolas Gisin. "Aber unabhängig von der Berechnungsweise sind unsere Investitionen im internationalen Vergleich dürftig. Wir machen uns lächerlich. Die Schweiz muss aufwachen, weil jetzt Handeln angesagt ist." In diesem Zusammenhang hat der Ausschluss der Schweiz aus europäischen Programmen grossen Einfluss auf die Schweizer Wettbewerbsfähigkeit in diesem Bereich. "Die Grundlagenforschung wurde nicht allzu stark beeinträchtigt, weil der Schweizerische Nationalfonds den finanziellen Teil kompensiert hat", erläutert Gisin. "Die angewandte Forschung und die Industrie wurden dagegen erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Start‑ups erhalten keine EU‑Förderungen zur Finanzierung ihrer Forschung und Entwicklung mehr. Unternehmen, die Produkte bereits vermarkten, werden stark behindert, weil die EU darüber nachdenkt, den Zugang zum Quantenmarkt europäischen Lieferanten vorzubehalten."
Das Ergebnis: Das Genfer Unternehmen ID Quantique gab im Februar 2022 die Gründung einer Niederlassung in Wien bekannt, um weiterhin am Programm Quantum Flagship teilnehmen zu können. "Natürlich ist es sehr wichtig, dass die Schweiz wieder Teil von Horizon Europe wird. Noch viel wichtiger aber ist, dass sie auch in Quantum Flagship aufgenommen wird und dass unsere Unternehmen, die in Quantentechnologien tätig sind, freien Zugang zum gesamten europäischen Markt haben. Unsere Schweizer Politiker, die mit Brüssel verhandeln, müssen sich dessen bewusst sein: Denn das Problem ist deutlich grösser als Horizon Europe."
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